Das Assyriologie-Forschungsteam scannte drei Wochen lang, um Texte zu entdecken, welche seit Jahrtausenden niemand mehr gelesen hatte. Die Keilschriftzeichen wurden ursprünglich in Niedermesopotamien gezeichnet, jener antiken Region, in welcher sich heute der Irak und Syrien befinden und die sich damals bis in die Türkei und den Iran erstreckte.
Das nagelförmige Schriftsystem wurde vor etwa 6000 Jahren entwickelt und diente dazu, die sehr unterschiedlichen Sprachen wie Assyrisch, Babylonisch, Sumerisch und Hethitisch zu verschriftlichen. Die Keilschrift, welche von den Archäologinnen und Archäologen entziffert werden konnte, verbreitete sich im gesamten Vorderen Orient, ehe sie im ersten Jahrhundert nach Christus verschwand.
Als Hauptmedium, auf welchem die Keilschrift mit einem Schilfstift eingeritzt wurde, sind in der Regel handtellergrosse Tontafeln verwendet worden. Fast zwei Jahrhunderte archäologischer Ausgrabungen haben Hunderttausende von Texten hervorgebracht, eine regelrechte Goldgrube für die Wissenschaft – mit einer Ausnahme: den Tonumhüllungen. Die Hüllen dienten dazu, die Tafeln zu schützen und deren Inhalt geheim zu halten.
Portabler Scanner
Ein Team der Universität Hamburg hat nun einen tragbaren Scanner, den ENCI, entwickelt. ENCI steht für Extracting non-destructively cuneiform inscriptions, zu Deutsch: zerstörungsfreie Extraktion von Keilschrift. Diese Erfindung wiegt rund 400 Kilogramm und konnte so in die Türkei gebracht werden, da die wertvollen Tafeln nicht zu weit transportiert werden können, ohne beschädigt zu werden. Auf der Website der Uni Hamburg kann man eine 3D-Animation der versiegelten Tafel sehen.
Cécile Michel, Forschungsleiterin am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung CNRS in Paris, hat mit dem Gerät in Ankara rund 60 Keilschriftdokumente gescannt: «Heute haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, die versiegelten Keilschrifttafeln zu analysieren», erzählt sie in einem Interview mit der Universität Hamburg. «Vor ENCI gab es keine portablen Geräte.» Normalerweise wiegen solche Scanner zwischen zwei und sieben Tonnen.
Unter den Entdeckungen befand sich auch ein Brief, welcher bei Cécile Michel für Begeisterung sorgte: «Ich konnte eine 60-zeilige Tafel lesen. Es handelt sich um einen spannenden Text, der einen Prozess zwischen mehreren Personen nacherzählt. Man hat versucht, den Fall zu entwirren und versucht, eine Lösung zu finden.»
Die Assyriologin ist mit der Übersetzung noch nicht fertig, aber sie freut sich, dass sie nun Zugang dazu hat: «Als ich 1997 den Umschlag publizierte, hatte ich lediglich den Namen des Absenders, den Namen des Empfängers und das Siegel des Absenders.», erinnert sie sich im Gespräch mit dem Westschweizer Radio RTS.
Die neuen Texte, hauptsächlich Verträge und persönliche Briefe, bieten einen einzigartigen Einblick in das Alltagsleben im antiken Assyrien, das im 19. Jahrhundert vor Christus in Anatolien angesiedelt war. Die Forschung eröffnet nun auch neue Perspektiven für das Studium der antiken Zivilisationen Mesopotamiens.