Was für eine Überforderung: 250'000 unentzifferte Keilschrifttafeln schlummern in den Museen der Welt. Doch nur gerade 300 Menschen können sie lesen.
Altorientalist Enrique Jimenez von der Ludwig-Maximilians-Universität München ist einer dieser wenigen «Keilschriftler», wie er seine Profession selbst bezeichnet. Er kann lesen, was ab dem späten vierten Jahrtausend bis kurz vor unserer Zeitrechnung in Mesopotamien in feuchte Tontafeln gedrückt wurde. Auf Sumerisch und Akkadisch verfasste Urkunden, Inventarlisten, Briefe, Gelehrtentexte und ganz grosse Literatur – wie der babylonische Schöpfungsmythos Enuma Elisch oder das Gilgamesch-Epos: Die Geschichte des sumerischen Königs und Raufbolds, der das ewige Leben sucht und an der Endlichkeit wächst.
Grosse Literatur mit riesigen Lücken
Mindestens viertausend Jahre alt ist der wuchtige Text, der heute noch berührt, weil von der ersten Zeile an verzweifelt menschlich: «Der, der die Tiefe sah – die Grundlagen des Landes; der die Wege kannte; der, dem alles bewusst.»
Trotz unzähliger Abschriften fehlt noch immer ein Drittel des Epos. Tausend Verse, die sich im Wust noch nicht entzifferter Tafeln und Scherben verbergen könnten. Zusammen mit vielen anderen Texten.
KI klebt zusammen, was auseinandergebrochen ist
Diese Masse an Material ist für den Menschen nicht bewältigbar. Darum hilft seit kurzem künstliche Intelligenz beim Kleben. Im übertragenen Sinn. Wissenschaftler wie Enrique Jimenez trainieren Algorithmen und lehren sie, Textfragmente zusammenzufügen. Der Schlüssel sind die Überlappungen von Fragmenten unterschiedlicher Abschriften.
Puzzeln kann KI schon richtig gut. KI-Projekte wie das von Enrique Jimenez geleitete «Electronic Babylonian Library Project» haben die Altorientalistik in den letzten Jahren tüchtig in die Gänge gebracht und beschleunigt.
Sorgfältig aufbereitetes Menu für den Computer
Hier treffen Jahrtausende alte Texte und modernste KI aufeinander. Und das geht so: In den beiden grössten Keilschriftsammlungen der Welt – im Irak-Museum in Bagdad und im British Museum London – werden laufend Tontafeln fotografiert. Die Altorientalisten in München schreiben die Texte in unsere Schrift um und füttern damit ihre Computer. Die Umschriften braucht es, weil KI sich mit der Dreidimensionalität der Keilschrift und der fehlenden Orthografie noch schwertut. Zum Schluss fügt die an mesopotamischen Texten trainierte KI zusammen, was zusammengehört.
Und das geht eben sehr viel schneller als früher. Zum Vergleich: Seit den Anfängen der Altorientalistik Mitte des 19. Jahrhunderts wurden 5000 solcher Zusammenschlüsse entdeckt. Das Münchner KI-Projekt hat innerhalb von nur vier Jahren bereits 1500 Überlappungen identifiziert und auf diese Weise Textlücken gefüllt. Trotzdem – es gibt noch viel abzutragen.
Alle dürfen mitpuzzeln
Über 20'000 Tontafel-Fragmente haben die IT-Expertinnen und Altorientalisten in München mittlerweile digitalisiert und jetzt als «Fragmentarium» online gestellt. In diesen Daten-Pool können alle eintauchen, die auf der Suche nach neuen Texten sind. Getragen und angetrieben von künstlich intelligenten Schwimmhilfen.