Esther passierte es im Oktober 1988 in Genf. Die schweizerisch-peruanische Doppelbürgerin ging zum Hotel Terminus, nur wenige Meter vom Genfer Bahnhof entfernt. Sie war damals als Dolmetscherin tätig, arbeitete hin und wieder auch als Journalistin und wurde gebeten, ein Exklusivinterview mit Abbé Pierre für die Zeitschrift «Choisir» zu führen.
Im Interview mit der RTS-Sendung «Mise au point» erinnert sich die 88-Jährige an die Szene, die sich damals abgespielt hat.
Er stand neben mir (...) drückte sich an meinen Körper, dann spürte ich, dass er eine Erektion hatte.
Im Zimmer von Abbé Pierre angekommen, machte sie zunächst ein paar Fotos. Doch nach einem informellen Gespräch und bevor das Interview begann, näherte sich der Abt plötzlich ihrem Stuhl. «Er stand neben mir, presste sich an meinen Körper», sagt sie, «und dann spürte ich, dass er eine Erektion hatte.»
Esther befand sich in einem Schockzustand, wie sie selbst sagt. «Er legte seine Hände auf meinen Pullover und berührte meine Brüste. Und dann steckte er seine Zunge in meinen Mund. Nach ein paar Minuten fragte mich Abbé Pierre: ‹Na, war es auch gut für dich, meine Kleine? › oder ‹meine Tochter?› An diesem Punkt reagierte ich und rannte weg.»
Danach wurde ihr klar, dass sie ins Hotel zurückkehren muss – aus Angst, die Zeitungsmacher zu verärgern, die sie mit dem Interview beauftragt hatten. «Dieses Mal beschloss ich, meinen Mantel anzuziehen und in der Nähe der Tür zu bleiben und Abstand zu halten», erinnert sie sich. «Nachdem das Interview vorbei war, gelang es Abbé Pierre dennoch, meine Brüste über meiner Kleidung erneut zu berühren.»
Vorfall schon 2007 bekannt gemacht
Bereits 2007 machte Esther ihre Geschichte in einer Zeitschrift in ihrer Heimat Peru publik. Sie hatte den Tod von Abt Pierre abgewartet, bevor sie an die Öffentlichkeit ging. Die Angelegenheit erregte jedoch nur wenig Aufmerksamkeit.
Er war ein geisteskranker Mensch, dem die katholische Kirche erlaubte, herumzureisen und schreckliche Dinge zu tun.
«Peru ist ein armes Land. Die Leute interessieren sich nicht für solche Geschichten und über sexuellen Missbrauch in der Kirche bleibt Vieles unausgesprochen», sagt sie. «Zudem ist Abbé Pierre hier nicht sehr bekannt.»
Aber auch in Perus Hauptstadt Lima gibt es seit 1959 eine Emmaus-Gemeinschaft, die ursprünglich von Abbé Pierre ins Leben gerufen wurde und weltweit tätig ist. Der Abt soll Esther zufolge bei seinen Peru-Besuchen ebenfalls Frauen belästigt haben.
Esther fügt hinzu: «Er war ein psychisch kranker Mensch, dem die katholische Kirche erlaubte, überall auf der Welt herumzureisen und schreckliche Dinge zu tun.»
Das Schweigen der Kirche anprangern
Esther entschied, über ihre Geschichte zu sprechen, um das Schweigen der Kirche anzuprangern. «Es muss bekannt werden, denn jetzt, wo ich die anderen Geschichten über Angriffe von Abbé Pierre kenne, ist es unverzeihlich», erklärt sie. «Aber das Schlimmste ist meiner Meinung nach, dass die katholische Kirche das 70 Jahre lang verheimlicht hat. Ich finde das unverzeihlich, vor allem wenn man bedenkt, dass es damals nicht nur 50-jährige Frauen wie mich gab, sondern auch sehr junge Mädchen.»
Die 88-Jährige ist eine der 24 Frauen, die von einer Expertengruppe kontaktiert wurde. Diese Gruppe wurde unter anderem von der Fondation Abbé Pierre damit beauftragt, Aussagen von Zeuginnen zu sammeln und einen Bericht zu erstellen.