In einer idealen Welt werden Reformen auf breiten Schultern ins Ziel getragen, unterstützt von den Geschlechtern und von allen Landesteilen. Im Fall der AHV-Reform scheint diese ideale Welt besonders weit entfernt. Jedenfalls lässt das die zweite SRG-Umfrage des Forschungsinstitus GFS Bern vermuten.
Ein tiefer Geschlechtergraben
Insbesondere zwischen den Geschlechtern tut sich ein tiefer Graben auf. Zum Zeitpunkt der Umfrage – rund drei Wochen vor dem Abstimmungstermin – beabsichtigten fast drei Viertel der Männer Ja zu sagen, während gleichzeitig über die Hälfte der Frauen Nein stimmen wollen. Der «Gender Gap» beträgt spektakuläre 26 Prozentpunkte. An der Urne wäre ein so tiefer Geschlechtergraben Rekord.
Ein wichtiger Grund für die grosse Diskrepanz zwischen den Geschlechtern liegt in der persönlichen Betroffenheit. Die Reform ändert gar nichts am Rentenalter der Männer. Für die Frauen hingegen bedeutet sie, ein Jahr länger arbeiten zu müssen als bisher. Für Rot-Grün und die Gewerkschaften geschieht die AHV-Reform darum «auf dem Buckel der Frauen».
Für Mitte-Rechts hingegen ist die Reform «solidarisch» und kommt allen – und damit auch den Frauen – zugute, da sie die AHV für die Zukunft sichere. Zum Ärger des Nein-Lagers spricht das Ja-Lager bei der AHV-Reform auch von Gleichberechtigung, die durch das gleiche AHV-Alter erreicht werde. Erfolg scheinen die Befürworterinnen und Befürworter damit vor allem bei den Männern zu haben. Viele Frauen hingegen sehen sich noch in zu vielen Bereichen benachteiligt. Zum Beispiel beim Lohnniveau oder bei der 2. Säule, der beruflichen Vorsorge.
Rösti- und Polentagraben droht
Der zweite tiefe Graben tut sich bei der AHV-Reform zwischen den Landesteilen auf. Es ist wahrscheinlich, dass am 25. September die Deutschschweiz Ja sagt zur Reform, während die Romandie und eventuell auch die italienischsprachige Schweiz Nein sagen.
Ein «Rösti- und Polentagraben» droht, wie es GFS-Politologin Martina Mousson formuliert. Der entscheidende Grund dürfte darin liegen, dass die lateinischen Kantone in sozialpolitischen Fragen traditionell linker ticken als die deutschsprachigen. So hätte die Westschweiz zum Beispiel 2014 die Einheitskrankenkasse eingeführt, und 2016 stimmte die Romandie für die linke AHV-Plus-Initiative. Bei beiden Vorlagen obsiegten die Deutschschweizer Kantone.
Abstimmungslokomotive Maillard
Bei der aktuellen AHV-Reform könnte auch noch ein personeller Grund mitspielen. In der Person des Waadtländer Gewerkschaftschefs Pierre-Yves Maillard hat das Nein-Komitee einen wortgewaltigen Meinungsführer. Er entfaltet seine Wirkung vor allem in der Romandie. Alain Berset, in dieser Frage einer seiner wichtigsten Gegenspieler, kann in der Westschweiz nicht annähernd mobilisieren, allein schon, weil ihm das Bundesratsamt Zurückhaltung auferlegt.
Die direkte Demokratie kann damit umgehen, wenn in Abstimmungen zum Teil auch grosse Minderheiten in der Bevölkerung verlieren. Vor allem, weil die Mehrheiten nicht immer dieselben sind und je nach Thema wechseln. Und doch wäre es zumindest unschön, würden am 25. September die Männer den Frauen das Rentenalter diktieren. Gegen deren Willen. Eine ideale Welt sieht anders aus.