In einer Welt ohne Tierversuche kämen allein in der Schweiz Hunderttausende Mäuse und Zehntausende Ratten pro Jahr erst gar nicht auf die Welt. Aber was bedeutet es für den Menschen, wenn Chemikalien und Medikamente gar nicht mehr an Tieren getestet werden? Und wie liesse sich erforschen, wie Krankheiten entstehen? In der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Stimmen.
Kein medizinischer Fortschritt vs. weniger Misserfolge
Thorsten Buch, Leiter des Instituts für Labortierkunde an der Universität Zürich, hält Tierversuche für unverzichtbar. Er gehört damit zur Mehrheit unter den Forschenden. Buch sagt: «Eine Welt ohne Tierversuche wäre für den medizinischen Fortschritt katastrophal.» Viele neue Therapien gäbe es ohne Tierversuche nicht.
Immunologe Buch nennt als Beispiel die sogenannten Checkpoint-Inhibitoren, eine bahnbrechende Immuntherapie gegen Krebs. Für die Entwicklung der Therapie habe man Vorgänge im ganzen Körper verstehen müssen. «Für Forschung dieser Art sind Tierversuche unabdingbar.» Das Tiermodell sei nicht perfekt. Aber es sei für komplexe Fragestellungen, die beste Möglichkeit, die man habe.
Marcel Leist blickt hingegen optimistisch in eine tierversuchsfreie Welt. Der Toxikologe von der Universität Konstanz und Co-Direktor des Zentrums für Alternativen zum Tierversuch in Europa sagt: «Wir können uns den echten medizinischen Problemen mehr zuwenden und grössere Fortschritte machen.»
Leist verweist auf die vielen Misserfolge, die es just wegen der Tiere gäbe. «Wir verlieren viele gute Wirkstoffe, die im Tier nicht wirken und im Menschen gewirkt hätten.» Und es gäbe umgekehrt viele Stoffe, die im Tier wirkten, im Menschen aber nicht. Etwa bei einer Blutvergiftung. Leist: «Der Mensch ist keine 70-Kilogramm-Ratte.»
Organoide anstatt Tierversuche
Doch was träte in einer Welt ohne Tierversuche an deren Stelle? Forschende würden wohl nur noch mit Testmodellen arbeiten, die auf menschlichen Zellen basieren. Schon heute gibt es einige. An gezüchteter Haut testet man Kosmetika. Ob Infusionslösungen Giftstoffe enthalten, wird an Blutzellen untersucht.
Die am intensivsten beforschten Modelle sind die Organoide. Winzige Gewebe-Stückchen, gewachsen aus Zellen. Um nach neuen Wirkstoffen zu suchen und um zu testen, ob und wie giftig sie sind, setzt die Pharmaindustrie Leber-, Herz- oder Lungen-Organoide heute schon ein.
Und die Entwicklung würde in einer tierversuchsfreien Welt wohl explodieren. Die Organoide würden immer differenzierter und untereinander vernetzt sein, sagt Leist. Er ist überzeugt, dass man Menschen durch Kombination von biologischen und informatischen Systemen zumindest für bestimme Fragestellungen irgendwann simulieren kann. Es würde ein digitaler Doppelgänger entstehen, an dem man Krankheiten erforschen und Medikamententests durchführen könne.
Für Buch bliebe ohne Tier eine grosse Lücke. Schliesslich sei ein Organoid noch kein Organ und mehrere Organoide – ob analog oder digital – noch lange kein ganzer Organismus, geschweige denn ein Mensch. «Die Information, die wir bekommen, ist beschränkt und sie wird auch in Zukunft beschränkt bleiben.» Für Probanden, die in Studien als erste neue Wirkstoffe testen, könnte es gefährlicher werden als heute.
Eines kann man also mit Sicherheit sagen: Für den Menschen wäre eine tierversuchsfreie Welt ein Experiment – mit unklarem Ausgang.