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Gedankenexperiment Was wäre, wenn es keine Tierversuche mehr gäbe?

In einer tierversuchsfreien Welt wäre das Leid der Labortiere passé. Für den Menschen hingegen wäre es ein Experiment mit unklarem Ausgang.

In einer Welt ohne Tierversuche kämen allein in der Schweiz Hunderttausende Mäuse und Zehntausende Ratten pro Jahr erst gar nicht auf die Welt. Aber was bedeutet es für den Menschen, wenn Chemikalien und Medikamente gar nicht mehr an Tieren getestet werden? Und wie liesse sich erforschen, wie Krankheiten entstehen? In der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Stimmen.

Kein medizinischer Fortschritt vs. weniger Misserfolge

Thorsten Buch, Leiter des Instituts für Labortierkunde an der Universität Zürich, hält Tierversuche für unverzichtbar. Er gehört damit zur Mehrheit unter den Forschenden. Buch sagt: «Eine Welt ohne Tierversuche wäre für den medizinischen Fortschritt katastrophal.» Viele neue Therapien gäbe es ohne Tierversuche nicht.

Tierversuche in der Schweiz

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Im Jahr 2023 wurden laut Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen knapp 600'000 Tiere für Experimente eingesetzt, 1.6 Prozent mehr als im Vorjahr. Am weitaus häufigsten nutzt man Mäuse, gefolgt von Ratten und Fischen.

Etwa zwei Drittel der Tiere kommen zum Einsatz, um Krankheiten beim Menschen und neue Therapien zu erforschen. Es geht dabei vor allem um Krebs und um neurologische Erkrankungen. Allein für die Krebsforschung kamen 2023 knapp 130'000 Tiere zum Einsatz. Bevor ein neuer Wirkstoff in klinischen Studien am Menschen untersucht wird, muss seine Sicherheit am Tier getestet worden sein. Das ist gesetzlich so vorgeschrieben.

Die Tierschutzverordnung schreibt aber auch vor, dass Mäuse & Co. in der Forschung nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn das Forschungsziel nicht ohne Versuchstiere erreicht werden kann. Das ist auch Kern des sogenannten 3R-Prinzips. Es steht für: replace, reduce, refine. Auf Deutsch: Tierversuche sollen – wann immer möglich – durch alternative Methoden ersetzt, die Zahl der Versuche sowie der eingesetzten Tiere reduziert und das Tierwohl verbessert werden.

Immunologe Buch nennt als Beispiel die sogenannten Checkpoint-Inhibitoren, eine bahnbrechende Immuntherapie gegen Krebs. Für die Entwicklung der Therapie habe man Vorgänge im ganzen Körper verstehen müssen. «Für Forschung dieser Art sind Tierversuche unabdingbar.» Das Tiermodell sei nicht perfekt. Aber es sei für komplexe Fragestellungen, die beste Möglichkeit, die man habe.

Labormaus auf der Kante eines Glasbehälters.
Legende: Labormäuse werden für wissenschaftliche Forschungszwecke gezüchtet und verwendet. KEYSTONE/Gaetan Bally

Marcel Leist blickt hingegen optimistisch in eine tierversuchsfreie Welt. Der Toxikologe von der Universität Konstanz und Co-Direktor des Zentrums für Alternativen zum Tierversuch in Europa sagt: «Wir können uns den echten medizinischen Problemen mehr zuwenden und grössere Fortschritte machen.»

Leist verweist auf die vielen Misserfolge, die es just wegen der Tiere gäbe. «Wir verlieren viele gute Wirkstoffe, die im Tier nicht wirken und im Menschen gewirkt hätten.» Und es gäbe umgekehrt viele Stoffe, die im Tier wirkten, im Menschen aber nicht. Etwa bei einer Blutvergiftung. Leist: «Der Mensch ist keine 70-Kilogramm-Ratte.»

Organoide anstatt Tierversuche

Doch was träte in einer Welt ohne Tierversuche an deren Stelle? Forschende würden wohl nur noch mit Testmodellen arbeiten, die auf menschlichen Zellen basieren. Schon heute gibt es einige. An gezüchteter Haut testet man Kosmetika. Ob Infusionslösungen Giftstoffe enthalten, wird an Blutzellen untersucht.

Die SRF-Rubrik Was wäre, wenn ...?

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In der multimedialen Rubrik «Was wäre, wenn …?» leuchtet SRF Zukunftsszenarien aus. In einem Gedankenexperiment wird eine radikale oder unerwartete Entwicklung durchgespielt. Dieser Ansatz soll helfen, besser zu verstehen, was in der Zukunft geschehen könnte. SRF begleitet das jeweilige Thema rund 24 Stunden online, am Radio und im TV. Dabei werden Zuschauerinnen und User eingeladen, sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen.

Alle Artikel, Expertenchats und Videos der Rubrik «Was wäre, wenn …?» finden Sie hier.

Haben Sie weitere Ideen für Zukunftsszenarien, die SRF beleuchten soll? Schicken Sie uns gerne Ihren Input an communities@srf.ch.

Die am intensivsten beforschten Modelle sind die Organoide. Winzige Gewebe-Stückchen, gewachsen aus Zellen. Um nach neuen Wirkstoffen zu suchen und um zu testen, ob und wie giftig sie sind, setzt die Pharmaindustrie Leber-, Herz- oder Lungen-Organoide heute schon ein.

Und die Entwicklung würde in einer tierversuchsfreien Welt wohl explodieren. Die Organoide würden immer differenzierter und untereinander vernetzt sein, sagt Leist. Er ist überzeugt, dass man Menschen durch Kombination von biologischen und informatischen Systemen zumindest für bestimme Fragestellungen irgendwann simulieren kann. Es würde ein digitaler Doppelgänger entstehen, an dem man Krankheiten erforschen und Medikamententests durchführen könne.

Für Buch bliebe ohne Tier eine grosse Lücke. Schliesslich sei ein Organoid noch kein Organ und mehrere Organoide – ob analog oder digital – noch lange kein ganzer Organismus, geschweige denn ein Mensch. «Die Information, die wir bekommen, ist beschränkt und sie wird auch in Zukunft beschränkt bleiben.» Für Probanden, die in Studien als erste neue Wirkstoffe testen, könnte es gefährlicher werden als heute.

Eines kann man also mit Sicherheit sagen: Für den Menschen wäre eine tierversuchsfreie Welt ein Experiment – mit unklarem Ausgang.

10vor10, 6.2.2025, 21:50 Uhr;stal

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