Stundenlang wurde darüber diskutiert: Was bringt es, Restaurants zu schliessen, Masken zu tragen, gegen Corona zu impfen? Im Streit darüber sind viele Beziehungen und Freundschaften zerbrochen.
Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse der Universität Basel, hat für das Buch «Gekränkte Freiheit» sogenannte Querdenkerinnen und Querdenker befragt. Im SRF-Tagesgespräch erklärt er, was sie radikalisiert hat und was das für kommende Krisen heisst.
SRF: Etwa die Hälfte Ihrer Befragten hat vor der Pandemie SP oder Grüne gewählt, die andere Hälfte SVP. Also ist die ganze politische Bandbreite vertreten?
Es ist interessant, dass wir nicht die Ränder der Gesellschaft haben, sondern Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die berufstätig sind, die eine Familie haben, die sich informieren. Das hat mich besonders interessiert: Warum haben sich Menschen aus dem Kern der Gesellschaft während der Pandemie radikalisiert?
Eine Person hat im Interview zum Beispiel gesagt: «Mein Hobby ist kritisches Denken.» Ist das ein Ausdruck von Mündigkeit?
Das hat mich als Soziologe nachdenklich gemacht, weil es einen Konflikt um die Frage gab, wer kritisch ist. Wir Soziologen oder auch Menschen, die Maske getragen haben, wurden als «Schlafschafe» bezeichnet, während sie sich als «erwacht» gesehen haben.
Wir sind uns gewohnt, dass wir die Welt selbst beurteilen können. Aber in dieser Situation war man auf Expertinnen und Virologen angewiesen.
Diese Personen haben sich aber eine bestimmte Form der Kritik angeeignet. Sie sagten: «Da muss doch mehr dahinterstecken.» Das heisst, sie waren nicht nur kritisch, sondern haben die Kritik direkt mit dem verschwörungstheoretischen Narrativ verbunden.
Aus welchen Gründen?
Es gibt verschiedene Gründe. Wir sind uns beispielsweise gewohnt, dass wir die Welt selbst beurteilen können. Aber in dieser Situation war man auf Expertinnen und Virologen angewiesen, musste sich dem Wissen der Experten und Politikerinnen unterordnen.
Beide Lager haben sich wechselseitig sehr stark abgewertet.
Hat auch der Druck der Massnahmen-Befürworterinnen und -Befürworter zur Radikalisierung der Querdenker beigetragen?
Das würde ich mittlerweile auch so sehen. Da gab es eine Verhärtung gegenüber den Menschen, die diese Massnahmen nicht mittragen wollten. So haben sich beide Lager wechselseitig sehr stark abgewertet.
Gehen die Gräben nun langsam wieder zu?
Das Gespräch, das teilweise nicht mehr möglich war, beginnt teilweise wieder. Und das ist eine Voraussetzung für die Kompromissbereitschaft. Aber es gibt noch sehr viele alte Wunden.
Wenn man Entscheidungen immer nur als Sachzwang formuliert, dann entmündigt man die Bürger.
Was heisst das für die Zukunft, für künftige Krisen?
Eine Möglichkeit könnte sein, im politischen Alltag mit Alternativen zu kommunizieren. Statt zu sagen, wir müssen die Massnahmen ergreifen, Alternativen präsentieren. Sagen: «Wir haben den Lockdown, um beispielsweise die Grossmütter und Grossväter besser zu schützen, oder wir machen nichts. Und ihr könnt zwischen den beiden Varianten relativ rasch entscheiden.» Die Politik muss Entscheidungen treffen und diese auch durchziehen. Aber wenn man Entscheidungen immer nur als Sachzwang formuliert, dann entmündigt man die Bürger.
Das Gespräch führte Karoline Arn.