Die Zahlen des Berichts des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) sprechen eine deutliche Sprache: antisemitische Vorfälle nehmen zu. Online ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle um zwei Drittel angestiegen. Deutlich mehr als die Hälfte dieser Vorfälle steht im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
Es sind ganz unterschiedliche Gerüchte und Verschwörungstheorien, die über Jüdinnen und Juden verbreitet werden, erklärt Jonathan Kreutner, der SIG-Generalsekretär. «Auf der einen Seite wirft man jüdischen Menschen vor, sie hätten dieses Virus in die Welt gesetzt, um ‹die Welt zu beherrschen›. Auf der anderen Seite wirft man ihnen in den gleichen Chats und im gleichen Umfeld vor, dass das Virus von jüdischen Menschen erfunden worden ist.»
Jüdischen Menschen wirft man vor, sie hätten dieses Virus in die Welt gesetzt, um ‹die Welt zu beherrschen›.
Es sind widersprüchliche Vorwürfe. Der gemeinsame Nenner: Jüdinnen und Juden seien schuld an der ganzen Situation mit Corona – und sie seien Profiteure dieser Situation.
Internationales Problem
Dass solche Verschwörungstheorien bei Schweizer Corona-Rebellinen und -Rebellen verbreitet sind, sei keine Überraschung, sagt der Sozialwissenschaftler Marko Kovic. Er befasst sich intensiv mit dieser Szene. «Die Ergebnisse im Bericht decken sich eins zu eins mit den Ergebnissen aus der internationalen Forschung. Die Zunahme antisemitischer Verschwörungstheorien ist international ein problematisches Phänomen. Und dieses Deutungsmuster scheint in der Szene eine grosse Beliebtheit zu haben.»
Kovic sieht für den steigenden Antisemitismus zwei Gründe: Zum einen sei es eine lange und traurige Tradition, in Krisenzeiten Jüdinnen und Juden für das Unglück verantwortlich zu machen.
Und zum anderen könne man beobachten, «dass explizit rechtsextremistische und antisemitische Personen die Pandemie nutzen, um ihre Hassideologie an ein breiteres Publikum zu bringen. Und das geht in Zeiten von Telegram, Facebook, Instagram ziemlich einfach.»
Durch Verschwörungsnarrative zum Antisemitismus
Marko Kovic betont, dass die meisten Corona-Skeptiker eigentlich keine Antisemiten seien. Es bestehe in diesen Kreisen jetzt aber eine Gefahr: «Dadurch, dass sie sensibilisiert oder offen sind für diese Verschwörungsnarrative, kommen sie in Kontakt mit Antisemitismus und verinnerlichen diesen auch.»
Dadurch, dass sie sensibilisiert oder offen sind für diese Verschwörungsnarrative, kommen sie in Kontakt mit Antisemitismus und verinnerlichen diesen auch.
Auf Social Media, aber auch auf den Demonstrationen von Gegnerinnen und Gegnern der Corona-Massnahmen ist noch ein weiteres Phänomen zu beobachten: Holocaust-Vergleiche. Impfgegnerinnen und Massnahmen-Kritiker tragen einen gelben Stern und vergleichen sich mit den verfolgten Juden - und die heutigen Regierungen und Behörden werden auf eine Stufe gestellt mit dem Nazi-Regime.
Eine Tendenz, die dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund als Dachverband der Schweizer Juden, Sorgen bereitet. Zwar seien Holocaust-Vergleiche nicht per se antisemitisch, sagt Generalsekretär Jonathan Kreutner, aber sie könnten problematische Folgen haben: «Weil sie eben in ihrer Form und ihrer Menge am Ende den Holocaust banalisieren und vielleicht Antisemitismus Vorschub leisten können. Und deshalb sind sie auf jeden Fall zu unterlassen.»
Die Corona-Pandemie geht vielleicht bald zu Ende. Aber die in die Welt gesetzten Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und feindseligen Weltbilder werden wohl nicht so schnell verschwinden.