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Datenschutz in der Justiz KI gefährdet die Anonymisierung von Gerichtsurteilen

In Bern wird untersucht, ob Künstliche Intelligenz die Anonymisierung von Gerichtsfällen durchschauen und Betroffene identifizieren könnte.

Im März 1983 wurde in New Bedford, USA, eine 21-Jährige von vier Männern in einer Kneipe vergewaltigt. Gäste schauten zu, manche applaudierten – niemand verständigte die Polizei. Der Fall stiess auf enormes öffentliches Interesse. Richter William Young entschied, dass der Vergewaltigungsprozess live am Fernsehen gesendet wird – ein Novum. Young war der Meinung, die Transparenz der Justiz sei ein wichtiges öffentliches Interesse.

Doch heute bereut er den Entscheid, wie er in einer Netflix-Dokumentation sagt: «Die Tatsache, dass ihr Name [der Frau] sofort bekannt wurde, muss, ehrlich gesagt, mir angelastet werden. Die Medien waren sich bis dahin einig, dass der Name des mutmasslichen Opfers nicht bekannt gegeben würde. Und das war so einstimmig, dass ich zugeben muss, dass ich dachte, das würde auch für einen im TV übertragenen Prozess gelten. Tat es nicht. Es war mein Fehler und ich bereue ihn ausserordentlich.»

Mit Künstlicher Intelligenz Namen der Parteien herausfinden

Eine ähnliche Panne könnte heute wieder passieren. Dieses Mal nicht im Fernsehen, sondern im Internet.

Auch kantonale Gerichte publizieren ihre Urteile im Internet.
Autor: Magda Chodup Doktorandin, Kompetenzzentrum Public Management, Uni Bern

«In der Schweiz publizieren alle vier eidgenössischen Gerichte ihre Urteile und sogar Zwischenentscheidungen im Internet. Auch kantonale Gerichte publizieren ihre Urteile und einen Teil ihrer Zwischenentscheidungen», sagt Magda Chodup, die im Rahmen des Forschungsprojekts «Open Justice vs. Privacy» beim Kompetenzzentrum Public Management der Universität Bern eine Doktorarbeit schreibt.

Das Forschungsprojekt «Open Justice vs. Privacy»

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Person betrachtet ChatGPT-Webseite auf einem Computerbildschirm.
Legende: KEYSTONE/Christian Beutler

Die Justiz steht vor der Herausforderung, dass sich das Bedürfnis nach Transparenz und das Menschenrecht auf Privatsphäre widersprechen. Ziel des Forschungsprojekts «Open Justice vs. Privacy» an der Universität Bern ist es, Lösungen zu finden, wie Gerichte den Zugang zu gerichtlichen Dokumenten gewähren können, ohne das Recht auf Privatsphäre zu verletzen. Ganz konkret wird das Projekt zu einem Verifikationstool führen, mit dem Gerichte prüfen können, wie «de-anonymisierungssicher» ihre Urteile sind.

Das Forschungsprojekt unter der Leitung von Andreas Lienhard, Thomas Myrach und Matthias Stürmer wird vom Nationalfonds unterstützt und läuft noch bis am 31. Dezember 2024.

Hier finden Sie die Publikationen des Forschungsprojekts.

Die Publikation der Urteile dient der Transparenz. Gleichzeitig soll aber die Privatsphäre der Betroffenen geschützt werden. «Die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, die Urteile zu anonymisieren. Manche machen das mit IT-Tools», sagt Chodup.

Das Problem: KI kann relativ einfach anonymisierte Daten deanonymisieren. Mit ChatGPT könnte man zukünftig vielleicht herausfinden, ob der Nachbar früher eine Straftat begangen hat. Oder ob der neue Freund eine Kampfscheidung vor Bundesgericht ausgetragen hat.

ChatGPT kann noch keine Urteile deanonymisieren

Mit dem Forschungsprojekt «Open Justice vs. Privacy» wird deshalb an Lösungen geforscht, wie die Justiz Zugang zu Gerichtsentscheidungen gewährt und gleichzeitig die Privatsphäre schützt.

Im Rahmen des Projekts haben Forschende mit einer grossen Anzahl Gerichtsfälle geprüft, ob anhand frei verfügbarer Daten Personen identifiziert werden können. «Das ist uns zum Glück nicht gelungen», sagt der technische Forschungsleiter Matthias Stürmer. «Die KI ist noch nicht so gut. Aber die Bedrohung wird immer konkreter.»

Die Forschenden wollen deshalb bis Ende Jahr Guidelines für die Gerichte verfassen, wie sie Urteile anonymisieren sollen, sodass die Personen wirklich geheim bleiben.

Kulturelle Unterschiede im Umgang mit Gerichtsöffentlichkeit

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Im angelsächsischen Raum wird Transparenz höher gewichtet als in Kontinentaleuropa, wo der Schutz der Privatsphäre wichtiger ist. So werden in den USA oder Grossbritannien Urteile nur in Ausnahmefällen anonymisiert, in der Schweiz hingegen ist das obligatorisch.

Der Grund liegt unter anderem darin, dass sich Gerichte im angelsächsischen Raum auf Urteile stützen wie auf Gesetze (Common Law) – die Urteile müssen deshalb ebenso öffentlich sein wie Gesetze. In der Schweiz hingegen dienen die Urteile den Gerichten lediglich als Auslegungshilfe.

 

 

Echo der Zeit, 23.06.2024, 18 Uhr;lehl

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