Einst war alles Leben eins. Eine heiss brodelnde Ursuppe, in der sich neue Moleküle bildeten, die sich in der Fähigkeit massen, sich selber kopieren zu können und so den Ursprung des Lebens zu definieren. Die biochemische Ursuppe, das archaische Schöpfungsexperiment. Einst war alles Leben eins – doch dann wurde alles anders.
Auslöser von Ungleichheit, aber auch von Austausch
Zwischen manche Molekülverbände zog die Schöpfungsgeschichte Membrane – Häute, die schwitzten und so mit den benachbarten Strukturen ins Gespräch kamen. Bald waren nicht mehr alle gleich in der Ursuppe. Schuld an der Ungleichheit zwischen den Zellen waren die Häute, die Membrane, die Grenzen, die sich zwischen ihnen gebildet hatten.
Grenzen sind auch der Ort, wo Interaktion stattfindet.
Unter dem Schutzschirm der neuen Häute konnte jede Zelle ihren eigenen Weg gehen. Mit den Grenzen zwischen den Zellen entstanden die ersten ganzen Körper. Und damit entstanden Konkurrenz, Kampf, Krieg, Verwüstung – und sowieso alles Schlechte, sagen manche.
Doch wie in der Biologie bedeuten Grenzen auch in der Philosophie mehr als Trennung: «Grenzen haben immer zwei Gesichter», sagt die Philosophin Christine Abbt. «Sie trennen, aber sie sind auch der Ort, wo die Berührung, die Interaktion stattfindet.»
Offene Grenzen als Überforderung
Besonders heftig wird über eine Form der Grenze gestritten: die Staatsgrenze. Für einige steht sie für Ausgrenzung – und gehört geöffnet. Für Staatsrechtler Oliver Diggelmann sind offene Grenzen jedoch eher Albtraum als Traum. Eine Schwächung der Grenze sei eine Schwächung des Staates und somit eine Gefahr für die Bürger.
«Bei offenen Grenzen wären die Länder überfordert, ihre Integrationskapazitäten wären überfordert», sagt der Rechtswissenschaftler der Universität Zürich. «Die Spannungen würden zunehmen und viele würden sehr rasch die Schotten dichtmachen.» Die EU würde so eine Spannung kaum aushalten: «Das kann man nur schon daran ablesen, dass viel geringere Migration ein ganz wichtiger Faktor beim Brexit gewesen ist.»
Aus einem anderen Blickwinkel sieht Christine Abbt die totale Entgrenzung. In der Philosophie würden offene Grenzen ein anderes Verständnis von Zugehörigkeit bedeuten. «Die Vorstellung von einer offenen Welt, wo sich alle frei bewegen könnten, ist in der Philosophie verbunden mit der Vorstellung von einem neuen Bewusstsein von uns als Menschen», sagt Christine Abbt. Wir würden uns viel stärker als Menschen wahrnehmen und nicht als Mitglied von einem oder zwei Staaten, so die Philosophin.
Grenzüberschreitende Probleme
Auch brauche es für globale Probleme grenzüberschreitende Zusammenarbeit, sagt Christine Abbt: «Gerade angesichts von grossen Herausforderungen oder Problemen wie etwa dem Klimawandel oder auch Fragen der Gerechtigkeitsverteilung und Ressourcennutzung wird gesagt, es reicht nicht mehr, wenn ein Land alleine versucht diese zu lösen. Sondern da müssen wir alle zusammenarbeiten.» Da brauche es alle Länder und transnationale Lösungen.
Aber: Die Grenzen definieren auch das Territorium, indem der Staat überhaupt handeln kann. Sind sie grundsätzlich offen, schwäche das die politischen Institutionen und somit die Gemeinschaft, argumentiert der Rechtswissenschaftler Diggelmann.
Das war im Zeitalter der Ursuppe – vor Jahrmillionen – nicht anders. Handlungsfähige Lebewesen entstanden erst, als die ersten Grenzen entstanden waren – und damit die ersten Zellen.