Flugscham, weniger Fleischkonsum, technologische Anpassung – wir müssen dies, wir müssen das. Die Forderungen nach einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation sind in den letzten Jahren zu einem Reizthema geworden: für die einen alternativlos, für die anderen ein rotes Tuch. Doch stellt sich die Frage: Müssen wir uns wirklich verändern? Und wenn ja, in welchem Tempo? Der Soziologe Armin Nassehi sagt: Ja, wir müssen – aber in kleinen Schritten.
SRF News: So viele Veränderungen in so kurzer Zeit – fühlen Sie sich manchmal überfordert?
Armin Nassehi: Ja, natürlich. Wir leben in einer Zeit voller Veränderungen, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. In Deutschland gibt es interessante Umfragen, die zeigen, dass viele Menschen mit ihrem eigenen Leben zufrieden sind, sich jedoch vom Gesamtsystem überfordert fühlen. Ich glaube, das beschreibt die aktuelle Situation ganz gut.
Muss denn die Gesellschaft überhaupt transformiert werden?
Der Begriff der Transformation hat fast etwas Bedrohliches. Meiner Meinung nach gibt es einen enormen Transformationsdruck. Betrachten wir allein die künstliche Intelligenz, die eine grosse Rolle in der Wertschöpfungskette der Wirtschaft spielen wird. Auch der Klimawandel ist ein riesiges Thema, ebenso wie in einigen Ländern der demografische Wandel.
Die klassischen Parteien sind momentan nicht gut aufgestellt, um diese Herausforderungen zu bewältigen.
Es herrscht ein starker Veränderungsdruck, und in diesem Kontext muss die Gesellschaft sich zwangsläufig transformieren. Oder anders gesagt: Sie tut es ohnehin. Die spannende Frage dabei ist, ob man in Zeiten von Transformation und Krisen noch ein gewisses Mass an Kontrolle behält. Und manchmal muss man diese Frage ehrlicherweise mit Nein beantworten.
Gibt es Ihrer Meinung nach einen gesellschaftlichen Konsens darüber, was sich ändern muss?
Natürlich nicht. Das ist Gegenstand vieler Debatten, auch politisch. Es gibt mittlerweile politische Akteure, die davon leben, zu behaupten, dass sich nichts verändern solle, oder dass die Veränderungen in eine andere Richtung gehen müssten. Doch in Krisen- und Transformationszeiten gab es selten Einigkeit über den richtigen Weg.
Die Forschung zeigt, dass Menschen bereit sind, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie Zeit haben, sich anzupassen.
Die Kunst der Demokratie besteht darin, auch bei Uneinigkeit konstruktiv zu streiten. Aktuell sehen wir das leider selten, was sich im Erstarken rechtspopulistischer Parteien in Europa zeigt. Die klassischen Parteien sind momentan nicht gut aufgestellt, um diese Herausforderungen zu bewältigen.
Gehen wir noch einen Schritt weiter: Wie können Veränderungen in der Gesellschaft überhaupt herbeigeführt werden?
Das ist die grosse Frage. Es gibt zwei Ansätze: Einer setzt auf schnelle, radikale Veränderungen, was oft auf Widerstand stösst, weil Menschen an Gewohnheiten festhalten. Das zweite, von mir bevorzugte Modell ist der evolutionäre Wandel, bei dem Anpassungen über Zeit stattfinden. Die Forschung zeigt, dass Menschen bereit sind, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie Zeit haben, sich anzupassen. Die Herausforderung wird es sein, grosse Gesten in eine evolutionäre Form des Wandels zu verwandeln, um nachhaltige Veränderungen zu ermöglichen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic. Mitarbeit: Géraldine Jäggi