Erst der Aufruhr um abgesagte Konzerte von weissen Reggae-Musikern mit Rastas, dann die Kontroverse um die Publikation eines Films und zweier Bücher über Winnetou: Das Thema «kulturelle Aneignung» wirft derzeit Wellen. Den Historiker Harald Fischer-Tiné erinnern die emotional geführten Debatten an die 1980er-Jahre, als erstmals Asiatinnen und Asiaten mit klassischer Musik auf hiesigen Bühnen Erfolge feierten.
SRF News: Freut es Sie, dass dieses Thema so breit diskutiert wird?
Harald Fischer-Tiné: Einerseits ist es zu begrüssen, dass die Probleme, die uns Historikerinnen und Historiker seit Jahrzehnten beschäftigen, nun allmählich auch in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit einsickern. Auf der anderen Seite dienen der Erregungsgrad und die Emotionalität, die diese Debatte kennzeichnen, nicht unbedingt dem Erkenntnisfortschritt. Daher habe ich etwas gemischte Gefühle.
Warum herrscht Ihrer Meinung nach so grosse Erregtheit?
Das ist aus gutem Grund so, denn die Probleme von Rassismus und kolonialen Verflechtungen in der Jetztzeit, nicht als eine ferne Projektion in die Vergangenheit, sind erst in den letzten vier, fünf Jahren ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Auch in der Schweiz, wo man sich selbst nie im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus gesehen hat.
Es ist in den seltensten Fällen ein probates Mittel, einfach zu verbieten, über etwas zu sprechen und Dinge damit vermeintlich unsichtbar oder ungeschehen zu machen.
Angehörige der betroffenen Minoritäten, aber auch Mitglieder der sogenannten Mehrheitsgesellschaft reagieren teils recht emotional, etwa mit Forderungen nach Verboten oder Tabuisierung. Das löst wiederum beim Grossteil der Bevölkerung das Gefühl aus, bevormundet und belehrt zu werden, und das führt zu einer weiteren Eskalation.
Sind denn Verbote und Tabuisierung die Lösung?
Ich glaube nicht. Es ist in den seltensten Fällen ein probates Mittel, einfach zu verbieten, über etwas zu sprechen und Dinge damit vermeintlich unsichtbar oder ungeschehen zu machen. Das ist der falsche Weg.
Was ist eigentlich mit «kultureller Aneignung» gemeint?
Die Debatte um «cultural appropriation» wird in den USA ja schon seit mindestens 40 Jahren geführt. Aus der Literatur, die daraus hervorgegangen ist, schälen sich drei Bedeutungsebenen heraus:
Es wäre schwierig, wenn wir uns nun auf den Standpunkt stellen, Aneignungen durch Verbote oder Tabuisierung unmöglich zu machen. Das würde in eine Richtung führen, die sehr problematisch wäre.
In welche Richtung meinen Sie?
Wir würden uns eine Argumentation zu eigen machen, die in ultrakonservativen oder gar rassistischen Denkansätzen immer wieder postuliert wird. Nämlich, dass es so eine Form von Authentizität oder «kultureller Reinheit» gebe und man zu einer Deckungsgleichheit kommen müsse zwischen einer ethnisch definierten Gruppe und einer bestimmten kulturellen Ausdrucksform. Damit negiert man, dass es gegenseitige Anleihen, Befruchtungen, Bereicherungen geben kann.
Die Diskussion erinnert Sie an die 1980er-Jahre. Inwiefern?
Diese Ethnisierung erinnert mich an die deutlich zu verspürenden rassistischen Untertöne, als in immer stärkerem Masse Virtuosen in der klassischen Musik aus Ostasien bekannt geworden sind. Das hat die Gralshüter der abendländischen Hochkultur schockiert.
Im Grunde haben wir das Phänomen dieser Forderung nach Deckungsgleichheit von ethnischer Identität und kulturellen Ausdrucksformen damals schon gesehen.
Das steht natürlich auf einer anderen Ebene als schwarze Musik, bei der es im Kontext von Unterdrückung und Ausbeutung wiederum ganz andere Nuancen gibt. Aber im Grunde haben wir das Phänomen dieser Forderung nach Deckungsgleichheit von ethnischer Identität und kulturellen Ausdrucksformen damals schon gesehen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.