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Emotionale Debatte um kulturelle Aneignung
Aus Echo der Zeit vom 25.08.2022. Bild: DPA/Felix Kästle
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Kulturelle Aneignung «Verbote und Tabuisierungen sind der falsche Weg»

Erst der Aufruhr um abgesagte Konzerte von weissen Reggae-Musikern mit Rastas, dann die Kontroverse um die Publikation eines Films und zweier Bücher über Winnetou: Das Thema «kulturelle Aneignung» wirft derzeit Wellen. Den Historiker Harald Fischer-Tiné erinnern die emotional geführten Debatten an die 1980er-Jahre, als erstmals Asiatinnen und Asiaten mit klassischer Musik auf hiesigen Bühnen Erfolge feierten.

Harald Fischer-Tiné

Historiker

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Harald Fischer-Tiné ist Professor für Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Kolonialismus und Imperialismus.

SRF News: Freut es Sie, dass dieses Thema so breit diskutiert wird?

Harald Fischer-Tiné: Einerseits ist es zu begrüssen, dass die Probleme, die uns Historikerinnen und Historiker seit Jahrzehnten beschäftigen, nun allmählich auch in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit einsickern. Auf der anderen Seite dienen der Erregungsgrad und die Emotionalität, die diese Debatte kennzeichnen, nicht unbedingt dem Erkenntnisfortschritt. Daher habe ich etwas gemischte Gefühle.

Warum herrscht Ihrer Meinung nach so grosse Erregtheit?

Das ist aus gutem Grund so, denn die Probleme von Rassismus und kolonialen Verflechtungen in der Jetztzeit, nicht als eine ferne Projektion in die Vergangenheit, sind erst in den letzten vier, fünf Jahren ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Auch in der Schweiz, wo man sich selbst nie im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus gesehen hat.

Es ist in den seltensten Fällen ein probates Mittel, einfach zu verbieten, über etwas zu sprechen und Dinge damit vermeintlich unsichtbar oder ungeschehen zu machen.

Angehörige der betroffenen Minoritäten, aber auch Mitglieder der sogenannten Mehrheitsgesellschaft reagieren teils recht emotional, etwa mit Forderungen nach Verboten oder Tabuisierung. Das löst wiederum beim Grossteil der Bevölkerung das Gefühl aus, bevormundet und belehrt zu werden, und das führt zu einer weiteren Eskalation.

Sind denn Verbote und Tabuisierung die Lösung?

Ich glaube nicht. Es ist in den seltensten Fällen ein probates Mittel, einfach zu verbieten, über etwas zu sprechen und Dinge damit vermeintlich unsichtbar oder ungeschehen zu machen. Das ist der falsche Weg.

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Aus dem Archiv: Al Jolson mit einem Blackface in «The Jazz Singer»
aus 100 Sekunden Wissen vom 29.01.2014. Bild: Warner Bros.
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Was ist eigentlich mit «kultureller Aneignung» gemeint?

Die Debatte um «cultural appropriation» wird in den USA ja schon seit mindestens 40 Jahren geführt. Aus der Literatur, die daraus hervorgegangen ist, schälen sich drei Bedeutungsebenen heraus:

Die drei Ebenen der «kulturellen Aneignung»

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  1. Es gibt die bewusste Aneignung von Elementen aus einer fremden Kultur, um die Mitglieder dieser Kultur – einer ethnischen, sprachlichen, religiösen oder kulturellen Gemeinschaft – abzuwerten oder lächerlich zu machen. Ein berühmtes Beispiel ist das Blackfacing, wenn weisse Entertainer sich mit Kohle oder Schuhcreme die Haut schwarz oder braun färben und versuchen, den afroamerikanischen Akzent nachzuahmen, mit dem Ziel, diese Gruppe abzuwerten. Das ist ganz klar abzulehnen.
  2. Der Begriff wird auch benutzt, um zu bezeichnen, dass die Aneignung kultureller Elemente erfolgt, um wirtschaftlichen Profit zu machen, an dem die kreativen Urheber gar nicht beteiligt werden. Ein Beispiel ist Elvis Presley mit seinem ersten grossen Hit «That’s Alright Mama» aus dem Jahr 1954. Dieser war eins zu eins kopiert vom afroamerikanischen Blues-Sänger Arthur Crudup, der keinen einzigen Cent von den Hunderttausenden Dollar sah, die ihm als Tantiemen zugestanden hätten. Auch das ist klar abzulehnen.
  3. Die dritte Bedeutungsebene steht in der aktuellen Debatte im Vordergrund. Es geht dabei um Anleihen in Kunstformen, in Mode, in Kulinarik, die nicht aus einem negativen Impuls oder aus Profitsucht erfolgen, sondern mit einer durchaus positiven Intention, die Respekt vor dem Angeeigneten erkennen lassen. Solche Austauschprozesse sind historisch gesehen der Regelfall.

    Es wäre schwierig, wenn wir uns nun auf den Standpunkt stellen, Aneignungen durch Verbote oder Tabuisierung unmöglich zu machen. Das würde in eine Richtung führen, die sehr problematisch wäre.

In welche Richtung meinen Sie?

Wir würden uns eine Argumentation zu eigen machen, die in ultrakonservativen oder gar rassistischen Denkansätzen immer wieder postuliert wird. Nämlich, dass es so eine Form von Authentizität oder «kultureller Reinheit» gebe und man zu einer Deckungsgleichheit kommen müsse zwischen einer ethnisch definierten Gruppe und einer bestimmten kulturellen Ausdrucksform. Damit negiert man, dass es gegenseitige Anleihen, Befruchtungen, Bereicherungen geben kann.

Die Diskussion erinnert Sie an die 1980er-Jahre. Inwiefern?

Diese Ethnisierung erinnert mich an die deutlich zu verspürenden rassistischen Untertöne, als in immer stärkerem Masse Virtuosen in der klassischen Musik aus Ostasien bekannt geworden sind. Das hat die Gralshüter der abendländischen Hochkultur schockiert.

Im Grunde haben wir das Phänomen dieser Forderung nach Deckungsgleichheit von ethnischer Identität und kulturellen Ausdrucksformen damals schon gesehen.

Das steht natürlich auf einer anderen Ebene als schwarze Musik, bei der es im Kontext von Unterdrückung und Ausbeutung wiederum ganz andere Nuancen gibt. Aber im Grunde haben wir das Phänomen dieser Forderung nach Deckungsgleichheit von ethnischer Identität und kulturellen Ausdrucksformen damals schon gesehen.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Die Band Lauwarm.
Legende: Der Konzertabbruch eines Konzertes von Lauwarm in der Brasserie Lorraine in Bern erfolgte, weil sich Leute im Publikum unwohl fühlten, dass eine weisse Band Reggae-Musik spielte und Bandmitglieder Rastalocken trugen. Keystone/Lauwarm

Echo der Zeit, 25.08.2022, 18:00 Uhr ; 

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