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Nach Untersuchung in Zürich Umgang mit trans Jugendlichen: Jetzt übernimmt eine Ethikerin

In die strittige Debatte im Umgang mit trans Jugendlichen kommt Bewegung. Der Kanton Zürich hat nach Kritik von Eltern zwar keine systematischen Mängel in der Behandlung erkannt, sieht aber dennoch Handlungsbedarf: Unter dem Vorsitz einer Ethikerin entsteht ein neues Kompetenznetzwerk.

Zu unsorgfältig, zu schnell und teils ohne Miteinbezug der Eltern. SRF Investigativ hat Anfang Jahr Kritik bei der Abklärung und Behandlung von Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz im Kanton Zürich aufgedeckt . Zahlreiche Eltern und Jugendliche hatten bemängelt, Fachpersonen und Ärztinnen verschiedener Institutionen begegneten einer plötzlich auftretenden Transidentität bei Minderjährigen zu wenig sorgfältig. Trans Menschen leben in einem anderen Geschlecht als jenem, in dem sie geboren wurden.

Die Eltern hatten sich in einem Brief an die Zürcher Gesundheitsdirektion gewandt und eine Untersuchung gefordert. Kritisiert wurden die Diagnosestellung und Verfahren zur Einwilligung von Behandlungen. Der Kanton leitete danach interne Abklärungen ein, die nun abgeschlossen sind.

Qualität ganzheitlich sicherstellen

Die neue Zürcher Kantonspsychiaterin Nadja Weir sagt gegenüber SRF: «Wir haben keine systematischen Mängel bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie festgestellt». Keine medizinische Behandlung sei ohne Einverständnis der Sorgeberechtigten erfolgt.

Dennoch hätten die Abklärungen Handlungsbedarf aufgezeigt. Die Kommunikation und Transparenz darüber, wie behandelt wird, müsse verbessert werden, sagt Weir. Das Ziel sei, Jugendliche vor Eingriffen zu schützen, die sie später bereuen könnten, aber auch, trans Jugendlichen mit Leidensdruck schnell zu helfen.

Das wurde abgeklärt

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Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich hat alle geschlechtsangleichenden Operationen bei Minderjährigen für die Jahre 2020, 2021 und 2022 im Kanton aufgrund der Klinikunterlagen analysiert. Dabei handelt es sich um 37 Mastektomien, also Brustentfernungen bei Mädchen unter 18 Jahren. Die Gesundheitsdirektion kommt zum Schluss, dass keine Mängel bei der Indikationsstellung festgestellt worden seien. Zudem seien die Operationen nie ohne die Einwilligung der Sorgeberechtigten erfolgt.

Weiter hat die Zürcher Gesundheitsdirektion konkrete Vorwürfe von Eltern gegenüber verschiedenen Leistungserbringern im Kanton analysiert. Zahlreiche Elternteile hatten sich Anfang Jahr gemeinsam unter dem Absender des Elternvereins AMQG/AUFG zusammengeschlossen und mehrere Institutionen kritisiert, darunter auch die Klinik für Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie (KJPP), der wichtigsten Anlaufstelle bei Geschlechtsinkongruenz bei Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich. Sie kritisierten unter anderem eine übereilte Diagnosestellung und die Prozesse zur Einwilligung zu Behandlungen und Operationen.

Laut Zürcher Gesundheitsdirektion habe man die Vorwürfe sehr ernst genommen und bei den kritisierten Kliniken entsprechende Stellungnahmen eingeholt und diese überprüft. Dieses Vorgehen entspreche dem gängigen Standard. Systematische Mängel seien nicht festgestellt worden, aufsichtsrechtliche Massnahmen, wie von den Eltern gefordert, seien nicht erforderlich. Die KJPP schreibt auf Anfrage, sie habe als Reaktion alle Mitarbeitenden des medizinisch-therapeutischen Bereichs erneut geschult sowie Workshops für alle Pflegefachpersonen und Lehrpersonen durchgeführt.

Der Elternverein AMQG/AUFG bezeichnet das neue Netzwerk auf Anfrage als «wichtig und gut». Der Verein zeigt sich aber erstaunt darüber, dass das Netzwerk, das «die Rolle einer unabhängigen Aufsicht spielen sollte, aus Vertretern der Dienste selbst besteht, deren Praktiken wir kritisieren.» In diesem Zusammenhang sei die Objektivität und Unabhängigkeit des Netzwerks fraglich.
AMQG/AUFG setzt sich nach eigenen Angaben für einen angemessenen Umgang für Fragen zum Geschlecht bei jungen Menschen ein.

Gelingen soll dies mit einem neu gegründeten interdisziplinären Kompetenznetzwerk für Geschlechtsinkongruenz: «Mit einem Mehraugenprinzip soll die Qualität der Abklärungen gesichert werden», sagt Nadja Weir. Den Vorsitz des Netzwerks übernimmt Nikola Biller-Andorno, Professorin für biomedizinische Ethik an der Universität Zürich.

Ethikerin als unabhängige Instanz

Wie Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz richtig behandeln? Darüber wird international heftig diskutiert. Erst kürzlich wurde auch in der Schweiz der Entwurf für neue Leitlinien für Fachpersonen im deutschsprachigen Raum in die Überarbeitung zurückgeschickt. Hauptgrund: Mangelnde wissenschaftliche Evidenz. Die Debatte ist polarisiert und ideologisch aufgeladen.

Es braucht einen ehrlichen und offenen Dialog.
Autor: Nikola Biller-Andorno Professorin für biomedizinische Ethik, Universität Zürich

Ethik-Professorin Biller-Andorno will hier entgegenwirken und plädiert für Sachlichkeit: «Wir sind alle auf der Suche nach dem richtigen Umgang mit dem heiklen Thema.»

Tempo reduz ieren, Wisse n vergrössern

Psychiater, Endokrinologinnen und Chirurgen werden künftig gemeinsam darüber beraten, wie die Diagnostik und Behandlung im Einzelfall bestmöglich gelingen. Die Ethikerin agiert federführend und als unabhängige Instanz. «Ich will eine Anlaufstelle sein, falls es Eltern oder Jugendlichen zu schnell geht. Wir schauen dann alle gemeinsam, dass das Tempo im Einzelfall stimmt.» Das könne auch zu einer Entschleunigung der Behandlung führen.

Das will das neue Netzwerk

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Mit dem «Kompetenznetzwerk zur Diagnostik und Behandlung der Geschlechtsinkongruenz» wollen Psychiater, Psychologinnen, Endokrinologen, Chirurginnen und Ethikerinnen gemeinsam neue Standards in der Behandlung von trans Jugendlichen etablieren. Es sind Fachpersonen verschiedener Leistungserbringer (Unispital Zürich, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Kinderspital Zürich) und der Universität Zürich.

Das Netzwerk soll etwa bei komplexen Einzelfällen qualitätssichernd wirken, durch ein Mehraugenprinzip und Reflexion ethischer Fragestellungen. Unter der Federführung der Professorin für biomedizinische Ethik der Universität Zürich, Nikola Biller-Andorno, wolle das Netzwerk die bestmögliche Behandlung für Betroffene erreichen, heisst es bei der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich, die das Netzwerk diesen Frühling ins Leben gerufen hat. Wie das Netzwerk finanziert werden soll, ist noch nicht geklärt. Nikola Biller-Andorno sagt: «Vielleicht hat das Netzwerk auch Vorbildcharakter für anderen Kantone.»

Nebst des Kompetenznetzwerks lässt der Kanton Zürich ein externes juristisches und ethisches Gutachten erstellen. Das Ziel sei zu prüfen, welchen Handlungsspielraum die Behörden für Vorgaben in Bezug auf medikamentöse und operative Massnahmen bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie hätten.

Noch offen ist, unter welchen Bedingungen das Netzwerk beigezogen wird. Jugendliche mit Transitionswunsch werden auch künftig in erster Linie von Psychiaterinnen und Psychiatern abgeklärt. Das Netzwerk soll aber eine unabhängige Aussenstimme und Anlaufstelle sein.

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SRF 4 News, 08.07.2024, 06:00 Uhr

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