525 geschlechtsangleichende Eingriffe haben im vergangenen Jahr in der Schweiz stattgefunden. Die Mehrzahl an trans Männern, die sich die Brüste entfernen liessen.
Fast jeder zweite Eingriff erfolgte bei einer Person unter 25 Jahren. In 26 Fällen waren die Patienten und Patientinnen minderjährig. Vereinzelt ist es zwischen 2018 und 2021 auch zu Operationen an Unter-15-Jährigen gekommen.
Sicher ist: Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Doch nicht immer sind medizinische Eingriffe und Operationen ein Befreiungsschlag.
Die Debatte um Transidentität ist hochemotional, und zwischen den beiden Polen gibt es nur sehr wenig Verständigung. SRF Investigativ hat mit zwei Dutzend Betroffenen gesprochen. Hier erzählen drei von ihnen, wie individuell das Erlebte sein kann.
Raphael*, 16: Ein neues Leben
Es ist der Satz, den Menschen mit Transidentität oft sagen und der doch so tief geht: «Ich habe mich schon immer anders gefühlt.» Raphael ist heute 16 Jahre alt. Auf die Welt kommt er in einem weiblichen Körper. Doch er fühlt sich den Mädchen nicht zugehörig. Aber auch die Buben in seiner Klasse wollen ihn nicht akzeptieren.
Seit einigen Monaten macht er eine Testosteron-Therapie. Inzwischen sieht in ihm kaum mehr jemand ein Mädchen. Nicht nur seiner männlichen Kleidung wegen. Seine Stimme ist die eines 16-jährigen Jungen. Der nächste Schritt: Seine Brüste sollen operativ entfernt werden. Auf die Mastektomie freut er sich: «Ich gehe sehr gerne baden. In dieser und anderen Situationen ist es zurzeit sehr schwierig.»
Für seine Familie ist der Prozess nicht einfach gewesen. Raphael hatte vor dem Beginn der Transition Depressionen und Suizidgedanken. Er beschreibt es so: «Der Nebel hat allem die Bedeutung genommen. Ich wusste manchmal, dass mir etwas eigentlich wichtig wäre. Aber ich mochte einfach nicht.» Mutter Maria sagt: «Es gab schwierige Tage, an denen wir wussten, wir müssten eigentlich miteinander reden.» Das Rezept: dennoch in Kontakt bleiben und Respekt voreinander haben. Das sei sehr wichtig für Raphael gewesen.
Er besucht inzwischen eine Schule, in der er nur als Junge bekannt ist. Im kommenden Jahr beginnt er eine Lehre als Florist. Für Raphael sind die medizinischen Behandlungen ein Segen.
*Name geändert
Cédric*, 18: Doch kein Mädchen?
Cédric ist 14, als er plötzlich das Geschlecht angleichen will. Er stellt fest, dass Mädchen schönere Kleider haben und oftmals bevorzugt werden. «Im Sport haben die Mädchen bessere Noten bekommen, das habe ich unfair gefunden», sagt er. Ein Leben als Frau könnte ein leichteres sein, denkt er. Auch durch die Social-Media-Plattform Tiktok fühlt er sich in seinem Wunsch bestärkt: «Dort gab es sehr viele Transgender-Creators, die von ihrem Weg erzählt haben.»
Die ersten Abklärungen erlebt Cédric dann aber als Druck. Er erfährt, dass er möglichst schnell Pubertätsblocker nehmen solle, um nicht in den Stimmbruch zu kommen. Auch wird ihm nahegelegt, seine Spermien einfrieren zu lassen, falls er später Kinder wolle.
Zwei Monate nach dem Erstgespräch bekommt er die erste Spritze, die seine Pubertät aufschieben soll. So geht das monatlich, eineinhalb Jahre lang. Doch er stellt Nebenwirkungen fest: Seine Knochendichte sei immer geringer geworden. Zudem entwickelt er Depressionen. Schliesslich beendet er die Einnahme der Pubertätsblocker. «Es war eine Erleichterung», sagt er, «denn ich bin immer kranker geworden.»
Cédric ist in den Stimmbruch gekommen und lebt als Mann – auch wenn er sagt, er fühle sich «zwischen den Geschlechtern».
*Name geändert
Meli, 35: Von Frau zu Mann – und wieder zurück
Meli ist heute 35 Jahre alt und sagt, sie sei «erst jetzt wirklich glücklich». Um an diesen Punkt zu kommen, hat sie zweimal ihr Geschlecht angeglichen.
Sie erzählt, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend sehr viel Unsicherheit erfahren habe. In ihrem Körper habe sie sich immer falsch gefühlt. Sie besucht ein Treffen für trans Menschen. Dort habe man ganz genau gewusst, was man Ärzten oder Therapeutinnen sagen müsse, um medizinische Behandlungen einzuleiten. Sie erhält nach eigenen Angaben nach 15 Minuten die Diagnose Geschlechtsdysphorie. Diese eröffnet ihr den Weg zur Testosteron-Einnahme und schliesslich mit 25 zur Brustentfernung.
Elf Jahre lang lebt sie als André, macht viel Sport, hat eine Partnerin. Und dennoch: Ihr Zustand verbessert sich nicht, im Gegenteil. «Es ging mir noch schlechter», sagt sie.
Schliesslich der Weg zum Glauben. Im Rahmen einer Bibelgruppe findet sie für sich die Erklärung für ihr Unglück: «Ich habe nur meinem Vater gefallen wollen. Schon als kleines Mädchen habe ich gemerkt, dass er an Mädchen kein Interesse hat.» Das ist der Anlass, die Geschlechtsangleichung durch eine Detransition wieder rückgängig zu machen. Sie setzt nach und nach das Testosteron ab und wird wieder zur Frau – allerdings ohne Brüste. Sie sagt: «Sie fehlen mir nicht, sie waren mir immer zu gross. Aber ich werde leider nie ein Kind stillen können.»
Die Fachfrau für Kinderbetreuung liebt Kinder. Rückblickend bereut sie, ein Vorbild für junge Menschen gewesen zu sein. Heute sagt sie: «Wir müssen den Jugendlichen Interesse entgegenbringen. Das ist das Wichtigste.»
Die Geschichten von trans Personen sind so vielfältig wie das Leben. Für Fachpersonen ist das eine Herausforderung. Wie sollen sie herausfinden, was ein Mensch braucht und ob die Transition die richtige Entscheidung ist?
Die internationale Berufsorganisation WPATH (World Professional Asscociation for Transgender Health) hat hierzu Richtlinien formuliert. In diesen wird, von uns auf Deutsch übersetzt, für die Gruppe der Jugendlichen folgendes empfohlen: «Die Eltern (…) in den Beurteilungs- und Behandlungsprozess einbeziehen, es sei denn, ihre Beteiligung wird als schädlich für den Jugendlichen (…) erachtet.»
Voraussetzungen für medizinische Behandlungen sind unter anderem:
«Es ist wichtig, dass man sich immer wieder reflektiert», sagt Gynäkologe Niklaus Flütsch aus Zug. Er hat nach eigenen Angaben bis heute 1000 Transgender-Personen betreut und hat selbst die Transition zu einem Mann hinter sich.
Seine Patienten und Patientinnen stellt er immer wieder auf die Probe. «Gibt es Zweifel? Oder haben Sie sich schon mal überlegt, aufzuhören?», lauten die Fragen, die er trans Menschen beispielsweise während einer Hormonbehandlung stellt. Denn Hormone seien, bis auf den Stimmbruch, eine reversible Angelegenheit. Wenn trans Männer das Testosteron absetzen, kämen in der Regel Periode und Fruchtbarkeit zurück.
Der andere Punkt sei: Zeit geben. «Wir müssen meistens abbremsen. Denn wenn man einmal die Entscheidung gefällt hat, fehlt häufig Geduld. Und Geduld braucht es, um den Prozess durchzumachen.»
Dass die Eltern miteinbezogen werden müssen, ist bei jugendlichen trans Personen für ihn eine Selbstverständlichkeit. Die Eltern seien oft überfordert und fühlten sich alleingelassen. Und manche fragen sich, ob ihr Kind nicht zu jung ist für weitreichende und teilweise irreversible Behandlungen.
Urteilsfähige Personen sehen wir schon ab 13 oder 14 Jahren.
«Es hat eigentlich nichts mit dem Alter zu tun», sagt Niklaus Flütsch. «Urteilsfähige Personen sehen wir schon ab 13 oder 14 Jahren.» Sie könnten reflektieren und antizipieren, was auf sie zukomme.
Dennoch: «Als Mediziner muss ich sagen: Es gibt keine Sicherheit.» Für Niklaus Flütsch gehört das aber zum Leben. «Wir können uns für eine Ehe entscheiden, die in zehn Jahren nicht mehr stimmt. Oder für einen Schwangerschaftsabbruch, der in zehn Jahren nicht mehr stimmt.» Das müsse man akzeptieren. Auch beim Thema Trans.