Justin Wacker hat sich vor gut zwei Jahren als trans geoutet. Damals war er 16 Jahre alt. Das Geschlecht, das ihm bei der Geburt zugeordnet wurde, war weiblich. Seit er sich erinnern kann, weiss er aber: Er ist ein Mann. Heute kann Justin endlich so leben, wie er sich das lange gewünscht hatte. SRF hat ihn über ein Jahr lang begleitet auf seinem Weg vom Teenager zum erwachsenen Mann.
Justins früherer Leidensdruck
Justin spricht offen über seine Vergangenheit vor seinem Coming-out als trans, als er noch unter einem Mädchennamen gelebt hatte. Bei sich zu Hause hat er noch viele Fotos von früher, aus seiner Kindheit.
Bald merkt Justin, dass er sich in der Rolle als Mädchen nicht wohlfühlt: «Angefangen hat es vielleicht in der 5. oder 6. Klasse, dann, wenn man langsam in die Pubertät kommt. Ich habe gemerkt, dass ich mich mit der Entwicklung Richtung ‹Frau› sehr unwohl fühlte». Je älter er wird, desto grösser wird der Leidensdruck. Er erinnert sich noch gut: «Ich trug mitten im Sommer oft einen Pullover und eine Jacke, nur um die Oberweite zu verstecken. Ich bin fast verschmachtet.»
Justin sagt, dass das Gefühl, trans zu sein, schon lang da gewesen sei. Lange hatte er aber keinen Begriff dafür. «Dann bin ich irgendwann auf ‹trans› gestossen und ich habe relativ schnell gemerkt: Das ist der Begriff, nach dem ich all diese Jahre gesucht hatte.»
Nach seinem Outing als trans vor gut zwei Jahren nimmt Justin Pubertätsblocker. Und er beginnt eine Testosteron-Therapie. Dadurch setzt die Menstruation aus, die Stimme wird tiefer und die Muskelmasse nimmt zu. Kurz darauf folgt der nächste grosse Schritt.
Justin ändert offiziell seinen Namen und sein amtliches Geschlecht
Vor etwas mehr als einem Jahr, am 5. Januar 2022, lässt Justin seinen Namen und sein amtliches Geschlecht auf dem Pass offiziell anpassen – von weiblich zu männlich. Dies macht er auf dem Zivilstandsamt in Winterthur. Er ist damit einer der Ersten in der Schweiz, der dies – dank der Einführung eines neuen, nationalen Gesetzes – vereinfacht, unbürokratisch ändern lassen kann. Justin ist damals 16 Jahre alt. Auch wenn sie es von Gesetzes wegen her nicht müssten: seine Eltern begleiten ihn. Denn Mutter und Vater wollen Justin auf seinem Weg unterstützen.
Endlich: Justin ist nun auch gemäss Gesetz offiziell ein Mann. «Pure Erleichterung. Es ist wirklich schön. Ich halte jetzt das Papier in meinen Händen, das mir das bestätigt. Das ist mega cool», sagt der 16-Jährige damals sichtlich gerührt.
Justin lässt die weibliche Brust entfernen
Justin wünscht es sich schon lange: eine Mastektomie. Bei dieser geschlechtsangleichenden Operation wird die weibliche Brust entfernt – konkret das Brustdrüsengewebe. Anschliessend wird eine männliche, flache Brust geformt. Ein einschneidender, lebensverändernder Eingriff. Justin ist trotzdem fest entschlossen, diese Operation machen zu lassen. Zweifel oder Angst hat er keine.
Er habe sich das lange überlegt. Er sei zu 100 Prozent überzeugt, dass das die richtige Entscheidung sei, denn sonst fühle er sich einfach unwohl, erklärt Justin: «Ich bin überzeugt, dass ich mich tausendmal wohler fühlen würde in meinem Körper, wenn ich jetzt den Eingriff machen kann. So, dass ich im Sommer auch mal wieder baden gehen kann. Und ich mich allgemein wohler fühle.»
Ich bin überzeugt, dass ich mich tausendmal wohler fühlen würde in meinem Körper, wenn ich jetzt den Eingriff machen kann.
Informiert hat sich Justin schon vor Längerem bei einer Ärztin. Und im Internet. Auf Youtube hat er viele Erfahrungsberichte von anderen trans Menschen geschaut, die eine Mastektomie haben machen lassen. Die Kosten für die Mastektomie werden von der Krankenkasse übernommen. Wenige Wochen vor dem Eingriff hat er eine letzte Sprechstunde bei der Ärztin.
Dann am 7. Juli 2022: Der Tag der Operation. Es läuft alles gut. Justin kann bereits zwei Tage danach das Spital wieder verlassen. Nun beginnt der post-operative Heilungsprozess.
Justins Leben nach der OP: Befreiung, Geduld & Arbeit
Sechs Wochen lang muss Justin nach der Mastektomie eine Kompressionsweste tragen. Dann endlich kann er sie ausziehen. Ein grosser Moment, auf den Justin lange gewartet hat – eine Befreiung.
Er könne es selber noch kaum glauben, sagt Justin: «Ich bin überglücklich. Denn ich merke: ‹Du kannst jetzt wirklich dein ganzes Leben lang einfach nur noch T-Shirts anziehen, ohne irgendetwas darunter›.» Ein befreiendes Gefühl.
Gleichzeitig braucht es nach einem solchen Eingriff auch viel Geduld und Arbeit. Nach der OP muss Justin nämlich während mehrerer Monate regelmässig in die Physiotherapie. Auch zu Hause muss er Übungen machen. Die Physiotherapie mit Lymphdrainage unterstützt den Heilungsprozess und die Narbenheilung.
Es ist ein mega komisches Gefühl. Es ist, wie wenn man eine Plastikfolie über die Brust legt und es dann anfasst. Das ist alles ein bisschen taub.
Durch die Massagen wird die Durchblutung des Gewebes angeregt. Das ist wichtig. Denn nach einer Mastektomie kann es auch zu Sensibilitätsstörungen bei der Brust kommen. So auch bei Justin. Im oberen Brustbereich hat er seit der Operation ein Taubheitsgefühl: «Es ist ein mega komisches Gefühl. Es ist, wie wenn man eine Plastikfolie darüber legt und es dann anfasst. Das ist alles ein bisschen taub.»
Doch Justin ist zuversichtlich. Gemäss Ärztinnen und Ärzten kann es bis zu einem Jahr dauern, bis das Gefühl im Brustbereich wieder voll da ist. Justin muss nach der Operation rund zwei Monate auf Sport verzichten.
Justin kämpft sich zurück
Nach der langen Zwangspause darf Justin endlich wieder zurück aufs Eis. Seit acht Jahren spielt er Eishockey. Im letzten Jahr wechselt er zu den Männern ins U20-Top Team beim EHC Winterthur. Nach der Operation muss er seinen Trainingsrückstand aufholen. Justin arbeitet hart, trainiert bis zu vier Mal pro Woche und macht zusätzliches Krafttraining.
Justins neuer Trainer Manuel Mettler bewundert den Durchhaltewillen und den Ehrgeiz seines Schützlings: «Justin ist extrem aufgefallen durch seinen Willen und seinen Biss. Er macht seinen Job gut. Er ist selten zufrieden mit seiner Leistung, was eine schöne Eigenschaft ist. Er hat sich gut integriert. Und er ist ein einfacher Spieler. So Spieler hat man gerne im Team.»
Justin wird offiziell erwachsen
Am 11. Februar 2023 wird Justin offiziell volljährig. Seinen 18. Geburtstag feiert er zusammen mit Freundinnen und Freunden.
Am Gymnasium stehen bald die letzten Prüfungen an. Büffeln ist angesagt. Nach dem Matura-Abschluss im Sommer will Justin dann erstmal sein eigenes Geld verdienen, um später reisen zu gehen.
Von zu Hause ausziehen will Justin, auch wenn er nun erwachsen ist, zurzeit noch nicht. Aktuell ist er glücklich, so wie es ist. Auch eine weitere geschlechtsangleichende Operation ist für ihn im Moment kein Thema, sagt er: «Ich bin wirklich zufrieden und glücklich. Ich will keinen weiteren Eingriff, im Moment will ich es einfach geniessen und dankbar sein.»
Auf die Unterstützung seiner Familie könne er in jeden Fall auch in Zukunft zählen, sagt seine Mutter Annette Wacker: «Und ich bin gespannt, wohin die Reise weitergeht. Mit wem, wo, wie und was.»
Ich finde es wichtig, dass wir darüber reden, wenn es einem nicht gut geht und dass man sich Hilfe holt. Da muss man sich überhaupt nicht schämen.
Justin hat seinen Weg gefunden - vom jugendlichen hin zum erwachsenen Mann. Anderen jungen Menschen kann er folgenden Rat geben: «Ich finde es wichtig, dass wir darüber reden, wenn es einem nicht gut geht und dass man sich Hilfe holt. Da muss man sich überhaupt nicht schämen.» Es gebe gute Beratungsangebote und die ersten Ansprechpartner müssten auch nicht immer die Eltern sein, so Justin. «Man soll sich einfach an jemanden wenden, bei dem man sich wohl fühlt.»