Rún Studer ist in Giswil aufgewachsen, einem 3500-Seelen Dorf in Obwalden. Hier wird, wie im restlichen Kanton, bürgerlich gewählt und es zählen weitgehend konservative Werte. Wenn man aus der Reihe tanzt, kriege man dies zu spüren, sagt Studer. «Wer an unserer Schule gefärbte Haare trug oder sonst in irgendeiner Form auffiel, wurde komplett niedergemacht.»
Als Person, die sich keinem Geschlecht zuordnet, tanzt Rún Studer aus der Reihe. An gewissen Tagen fühlt sich die 21-Jährige mehr als Frau, an anderen wiederum überwiegt das Männliche. Er wusste lange nicht, wie er mit Gleichgesinnten aus der Umgebung in Kontakt zu kommen kann.
Also nahmen sie es selbst in die Hand – Rún Studer und ihre Kollegin Hanna Lai. Die beiden gründeten das Queerkaff, eine Plattform, wo sich lesbische, schwule, bisexuelle, trans und non-binäre Menschen aus Obwalden austauschen können. Zunächst existierte diese ausschliesslich im Internet als Instagram-Kanal, doch mittlerweile trifft man sich auch regelmässig, beispielsweise in einer Buchhandlung im Obwaldner Hauptort Sarnen. Dieses Mal bringt ein spezieller Anlass die Gruppe zusammen: Das einjährige Jubiläum des Queerkaff.
Freundschaften knüpfen
Gefeiert wird mit Kuchen und viel Regenbogendekoration. Es sind bunte Sticker mit aufmunternden Botschaften aufgelegt: «Gsehsch guet us!», «Alli Körper sind gueti Körper» oder «Du bisch es mega wärt». Die Teilnehmenden tragen ein Schildchen, auf dem nebst ihrem Namen auch die bevorzugten Pronomen zu lesen sind. Sie/ihr, er/ihm oder they/them steht da. Bei Rún Studer: «Alle».
«Natürlich wird über Genderthemen und Sexualität diskutiert, wenn endlich mal jemand da ist, mit dem man darüber sprechen kann», sagt Hanna Lai. Doch das Queer-Sein sei bei weitem nicht das einzige Thema an den Treffen. «Wir tauschen uns über unsere Lieblingsserien aus oder darüber, wie es bei der Arbeit läuft. Es geht darum, Freundschaften zu schliessen.»
Gegen Landflucht queerer Jugendlicher
Weil genau dies auf dem Land so schwierig ist, ziehen viele queere Menschen aus Obwalden in die Stadt. Der 23-jährige Hannes etwa, der mittlerweile in Zürich lebt und fürs Queerkaff auf Besuch in Sarnen ist. «Als ich 14 Jahre alt war und merkte, dass ich schwul bin, hatte ich das Gefühl, ich sei der einzige weit und breit.» Er habe sich fremd gefühlt.
Das zeige, welch positiven Einfluss eine Plattform wie Queerkaff haben kann. Sie zeige einem, dass man nicht allein ist. «Rún und Hanna gehören zur ersten Generation von queeren Menschen, die nicht aus Obwalden wegziehen mussten, um Gleichgesinnte zu finden», sagt Hannes. Sie hätten ihre «Bubble» einfach selbst gegründet. «Ich bin unglaublich stolz auf sie.» Das Queerkaff könnte man auch als eine Art Engagement gegen die Landflucht von queeren Jugendlichen ansehen.
Es ist die erste Generation von queeren Menschen, die nicht aus Obwalden wegziehen musste.
Rún Studer selbst hat auch lange mit dem Entscheid gehadert, im Dorf zu bleiben oder wegzuziehen. «Vor einem Jahr noch hätte ich mir nicht vorstellen können, hier zu bleiben.» Schliesslich dann das Eingeständnis: «Ich muss nicht weg.» Wenn sie am Abend jeweils mit dem Fahrrad von der Arbeit heimkehre, überkomme sie ein gutes Gefühl. «Es ist schön hier.»