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Psychische Gesundheit Arzt: «Irgendwie befindet sich die Kindheit in einer Krise»

Immer mehr Kinder haben Verhaltensstörungen oder Entwicklungsprobleme. Am Kinderspital Zürich beträgt die Wartezeit für eine Abklärung ein Jahr. Was sind die Gründe für die wachsende Krise? Was brauchen Kinder wirklich von ihren Eltern, um sich gut entwickeln zu können? Oskar Jenni ist Kinderarzt und leitet die Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich.

Oskar Jenni

Co-Leiter Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich

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Prof. Dr. med. Oskar Jenni (57) ist Co-Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich und Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Sein Leben sind die Kinder – beruflich wie privat. Der Kinder- und Jugendarzt leitet auch die Zürcher Longitudinalstudien zur kindlichen Entwicklung.

SRF News: Wie würden Sie den aktuellen Zustand der Kinder in der Schweiz beschreiben?

Oskar Jenni: Ich glaube, sie stehen unter Druck und sind gestresst. Ich blicke auf 25 Jahre Entwicklungspädiatrie zurück und habe einfach den Eindruck, dass sich etwas verändert hat. Irgendwie befindet sich die Kindheit in einer Krise.

Was für eine Krise?

Wir haben sehr viele Kinder, die belastet sind, die psychische Belastungen haben, die psychiatrische Diagnosen bekommen. Wir behandeln auch mehr mit Medikamenten. Es gibt eine weltweite Zunahme von psychischen Störungen: ADHS, Autismus, Angststörungen und Depressionen, Müdigkeit, Erschöpfung und Schulstress.

Können Sie Gründe nennen dafür, wieso die Kinder immer mehr in einer Krise sind?

Zum einen gibt es einen Wandel in der Wahrnehmung: Es gibt mehr Wissen und mehr Sensibilität gegenüber Krankheiten. Weiter erkennen wir einen übermässigen Leistungsdruck durch Familie, Schule und Gesellschaft. Und drittens: Globale Unsicherheiten wie die Klimakrise, Kriege und technologische Umbrüche belasten die Kinder ebenfalls.

Wenn wir selbst unter Druck stehen, verunsichert das auch die Kinder.

Krisen gab es schon immer – warum reagieren die heutigen Kinder und Jugendlichen empfindlicher?

Ich glaube, das hat auch mit uns Erwachsenen zu tun. Wir reagieren heute ebenfalls empfindlicher – die Polykrise macht auch uns Angst. Das ist eine kumulative Wahrnehmung, die wir als Gesellschaft haben: dass alles bergab geht – gesellschaftlich, politisch, ökologisch. Und die Kinder, die machen uns das eigentlich nur nach. Wenn wir selbst unter Druck stehen, verunsichert das auch die Kinder.

Was brauchen die Kinder, um die Situation zu verbessern?

Wir müssen auf jeder Ebene Druck wegnehmen. Den Leistungsdruck, den wir als Gesellschaft derzeit auf die Kinder ausüben, müssen wir reduzieren. Und wir müssen uns fragen: Was brauchen die Kinder eigentlich? Was sind ihre Grundbedürfnisse? Das sind die fünf Gs: Geborgenheit in Beziehungen, Gesundheit in Körper und Geist, Gelegenheiten für Erfahrungen, Grenzen für Orientierung und Freiraum, Gemeinschaften mit anderen.

Welche Faktoren in der Kindheit sind entscheidend für das gesamte Leben?

Ich bin ziemlich sicher, dass für ein gutes Leben im Alter harte Faktoren wie der IQ oder Erfolg in der Schule weniger wichtig sind als weiche Faktoren wie das Erziehungsklima in der Kindheit. Man kann einfach sagen: Wenn Kinder in der Kindheit unterstützende Beziehungen hatten, ist die Chance grösser, dass sie später gut durchs Leben kommen, als wenn sie das eben nicht hatten.

Wenn Eltern diese Verlässlichkeit bieten, führt das tatsächlich zu weniger Entwicklungsstörungen?

Da bin ich überzeugt. Als Eltern können wir eine Basis zur Verfügung stellen. Unterstützende Beziehungen sind zentral für eine langfristige Lebenszufriedenheit.

Das Gespräch führte David Karasek.

Tagesgespräch, 1.4.25, 13 Uhr ; 

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