8 von 10 Frauen in Europa haben vor ihrem 17. Lebensjahr schon sexuelle Belästigung erlebt. Trotz «#metoo» bleibt sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum für viele Frauen immer noch zum Alltag. Woran liegt es? Ein Interview mit «Street-Harassment»-Expertin Manuela Hofer.
SRF: Was können wir als Gesellschaft gegen sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum tun?
Manuela Hofer: Es braucht neue Männerbilder. Männer, die sich nicht beweisen müssen, in dem sie Frauen ab- oder bewerten. Da ist die ganze Gesellschaft gefordert.
Für viele scheint Nachrufen, -pfeifen oder Hupen harmlos. Ist dem so?
Nein. Es gibt die Darstellung der «The Slippery Slope» vom US-Amerikanischen Aktivisten Erik Kondo. Die zeigt auf: Auch bei harmlosen Dingen, wie beim Geben von anzüglichen Komplimenten ist Macht im Spiel. Denn die Frauen wissen, dass bei einer Zurückweisung das Gegenüber aggressiv reagieren und die Situation noch schlimmer werden könnte.
Man wird doch noch ein Kompliment machen können, kontern da viele.
Es gibt keine Grauzone. Wenn man Frauen fragt, was ist ok und was nicht – können sie das sehr genau benennen.
Die Verantwortung liegt nie bei den Betroffenen.
Ich hab die Erfahrung gemacht, dass ich im Moment nicht reagieren kann und geissle mich danach deswegen.
Die Verantwortung liegt klar bei anderen, nicht bei Betroffenen. Darum ist es wichtig, sich mit anderen auszutauschen. Dann realisiert man: Ich bin nicht alleine, ich bin nicht die Einzige, ich bin nicht Schuld, ich muss mich nicht schämen. Konfrontation kann zu Eskalation führen. Vielleicht findet man zusammen Möglichkeiten, wo man nicht so viel Mut braucht, nicht so stark abschätzen muss, was die Konsequenz sein könnte. Beispielsweise Leute in der Nähe ansprechen.
Was kann ich tun, wenn ich einen Übergriff sehe?
Sofort intervenieren ist eine Möglichkeit, aber die Riskanteste. Es wird empfohlen, die betroffene Person anzusprechen. Einfach mal fragen: «Ist es ok, was dir da gerade passiert?». Im Bus oder im Zug kann man auch mit dem Körper dazwischen gehen und so die Kommunikation unterbrechen oder paradox reagieren, in dem man etwas verschüttet. Auch gut: Andere involvieren, den Buschauffeur oder die Schaffnerin. Irgendetwas tun ist das Wichtigste.
Aus einem Nachpfeifen auf der Strasse sind selten glückliche Beziehungen entstanden.
Bei 95 Prozent der Anzeigen von sexueller Belästigung in der Schweiz sind die beschuldigten Personen männlich. Was können Männer per se tun, dass sich alle Menschen sicherer fühlen im öffentlichen Raum?
Sie sollen grundsätzlich zuhören, den Kolleginnen, Freundinnen. Nachfragen, was sie so erleben. Vielleicht auch das eigene Verhalten reflektieren. Wie spreche ich eigentlich Leute an? Wie reagieren die Frauen darauf? Komme ich zum Ziel? Wenn ich jemandem nachpfeife oder ein Kompliment auf der Strasse mache – daraus entstehen selten glückliche Beziehungen. Sich selbst darum fragen: Warum mache ich das eigentlich?
Sind wir als Gesellschaft wirklich noch nicht weiter?
Dass Frauen kommentiert und sexualisiert werden, ist kein neues Phänomen. Das sind Jahrhunderte alte patriarchale Strukturen, die sich verfestigt haben. Seit ein paar Jahren wird aber stärker darüber gesprochen, es gibt mehr Studien. Früher war das Thema viel mehr mit Scham besetzt, oft kam in öffentlichen Diskussionen vor, dass die Frauen selber Schuld seien, dass sie falsch angezogen seien oder es provoziert hätten. Wir hatten ein ganz negatives Männerbild. Als ob sich Männer nicht zurückhalten könnten, wenn eine schöne Frau vorbeiläuft. Das hat sich zum Glück geändert in den letzten Jahren.
Das Interview führte Michelle Feer.