Zehn Jahre arbeitete Marie-Ursula Kind als Anwältin am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Anschliessend erfüllte sie sich einen Jugendtraum und studierte Theologie. Heute ist sie Pfarrerin in St. Moritz.
SRF News: Haben Sie sich mit Ihrer Pfarrstelle in St. Moritz einen Jugendtraum erfüllt?
Marie-Ursula Kind: Ja, der Wunsch, Pfarrerin zu werden ist in meiner Kindheit angelegt. Ich bin sehr reformiert aufgewachsen. Mein Grossvater war Pfarrer, meine Mutter leitete den Kirchenchor, ich habe eine Jugendgruppe, die Junge Kirche, mitgeleitet. Als ich die Matura machte, traute ich mir noch nicht zu, vor eine Gemeinde zu stehen.
Sie traten aber als junge Anwältin eine Stelle am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien an, wussten Sie, was Sie da erwartet?
Jein. Ich habe mich immer für Völkerrecht interessiert, hatte eine Assistenzstelle an der Uni. Zu dieser Zeit wurde der Gerichtshof durch den UNO-Sicherheitsrat eingesetzt. Mich faszinierte die Möglichkeit, an einem internationalen Gericht in einem aktiven Krieg mit den Genfer Konventionen einzelne Personen zur Verantwortung ziehen.
Man ist mit den absoluten Abgründen des menschlichen Verhaltens konfrontiert. Das macht etwas mit einem.
Sie hörten die Opfer an, untersuchten die Ereignisse, war das eine schwere Aufgabe?
Das war ein schwieriger Teil der Arbeit. Wir verbrachten Wochen, Monate damit, die Aussagen anzuhören, zu analysieren, zu schauen, welche Aussagen welche Anklagepunkte unterstützen. Man ist mit den absoluten Abgründen des menschlichen Verhaltens konfrontiert. Das macht etwas mit einem. Es ist schrecklich, schockierend, ein Stück weit desillusionierend. Man merkt, was möglich ist, wenn die Umstände gegeben sind, wenn die Grundrechte nicht mehr gelten.
Hat diese Arbeit Ihr Menschenbild verändert oder auch Ihren Glauben an Gott?
Es hat mein Menschenbild verändert. Und in mir wachgerufen, wie vorsichtig wir auch hier in der Schweiz mit unserer Demokratie umgehen müssen. Das Bedürfnis nach Gott ist gewachsen. Nach einer Instanz, die noch grösser ist, in der unsere Suche nach Gerechtigkeit aufgehoben ist. Denn alle unsere Bemühungen, in unserem System Recht und Gerechtigkeit herzustellen, können auch fehlbar sein.
Ich glaube, Gott schaut, was wir gemacht haben, aber er schaut auch ins Herz.
Wie hat Ihnen der Glaube geholfen?
Für mich ist er Vertrauen darin, dass – auch wenn es uns nicht überall gelingt – Gerechtigkeit herzustellen, alle einmal vor dem Schöpfer geradestehen müssen für ihr Leben. Ich glaube, Gott schaut, was wir gemacht haben, aber er schaut auch ins Herz. Dies ist für mich eine Entlastung: Auch wenn uns nicht gelingt, anhand der Beweisführung jemanden zu verurteilen, der schuldig ist. Dann gibt es noch eine andere Instanz.
Sie denken aber nicht, die Täter kommen in die Hölle?
Nein, überhaupt nicht. Alle müssen Verantwortung für ihr Leben übernehmen, aber wie Gott damit umgeht, das ist etwas zwischen Gott und diesem Menschen.
Wie wirken sich Ihre Erfahrungen auf Ihre Arbeit als Pfarrerin aus?
Es hilft mir im Umgang mit den Menschen und ihren Nöten. Mit Menschen, die sich als Opfer oder als Täter erleben. Es zeigt sich auch in den Predigten. Ich nehme Bezug auf meine Arbeit oder das Thema Gerechtigkeit kommt immer wieder vor.
Als Ausgleich singen Sie gerne, fahren Velo und lesen Krimis. Was ist die Faszination von Krimis?
Ich lese gerne Krimis, in denen die Guten zu ihrem Recht kommen und diejenigen, die sich etwas zu Schulde kommen lassen, bestraft werden. Ich denke, es ist eine Art Flucht, nicht gerade in eine heile Welt, aber in einen Zustand, wie er im echten Leben nicht immer gegeben ist.
Das Gespräch führte Karoline Arn.