Als US-Präsident George W. Bush am 19. März 2003 den Beginn des Irakfeldzugs verkündete, begann ein Krieg, der Hunderttausenden Irakerinnen und Irakern sowie mehreren Tausend US-Soldaten das Leben kostete.
Ein Krieg, der ein Land und eine ganze Region bis heute destabilisiert, der das Ende der amerikanischen Alleinstellung als Hypermacht einläutete, der die Verbündeten der USA in Europa spaltete, der Irans Macht am Golf stärkte und Russlands Revanchismus Auftrieb verlieh. Ein Krieg, der China grosszügige Möglichkeiten für seinen globalen Aufstieg bot und der die psychologische Verfassung der USA bis heute wesentlich beeinflusst.
Angst, Machtfülle und Anmassung
Melvyn Leffler ist ein äusserst zuvorkommender Mann. Doch was der freundliche Professor in seinem mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmer sagt, ist keineswegs nett: «Drei Dinge trieben die Bush-Regierung in diesen Krieg: Angst, das Gefühl von beinahe unbeschränkter Macht und Anmassung.»
Melvyn Leffler ist in den USA ein hoch angesehener Historiker. In seinem neuen Buch über den Irakkrieg, «Confronting Saddam Hussein», geht Leffler der Frage nach: Wie konnten so viele intelligente Aussenpolitik-Experten, inklusive der höchsten und erfahrensten Ebene des Weissen Hauses, tatsächlich glauben, dass sie diesen Krieg gewinnen könnten? Und welche Warnungen halten die Antworten auf diese Fragen für die Gegenwart bereit?
Aufräumen mit Verschwörungstheorien
Leffler räumt auf der Suche nach Antworten zunächst einmal mit allzu einfachen Schlüssen auf. Die «Bush lied, people died»-Kritik etwa übersieht, dass die meisten US-Aussenpolitiker genauso wie die Geheimdienste das Gefahrenpotenzial von Saddam Husseins Waffenarsenal überschätzten, weil der irakische Diktator seine chemischen und biologischen Waffen Mitte der 1990er Jahre nur im Geheimen verschrottet, und danach die internationalen Inspektoren aus dem Land geworfen hatte.
Auch dass George W. Bush in seinen Entscheidungen allzu willfährig den Falken um Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney gefolgt sei, stimmt laut Leffler nicht.
Es gab keine Auseinandersetzung darüber, was schiefgehen konnte. Es gab nicht einmal ein klares Ziel für diesen Krieg.
Die Entscheidung zum Irakkrieg war für Leffler weder eine unausweichliche (von den Terrorangriffen von 9/11 bis zum Kriegsbeginn dauerte es rund 18 Monate), noch eine, die dem Präsidenten von ideologischen Cliquen oder kriegslüsternen Eiferern eingeredet worden ist. Bush sei zu jedem Zeitpunkt Herr seiner Entscheidungen gewesen, so Leffler. Womit der Präsident natürlich nur noch mehr in der Verantwortung steht.
Kein Plan und kein Ziel
«Der gesamte Entscheidungsfindungsprozess war voller Fehler!» Der freundliche Ausdruck in Lefflers Gesicht kann nicht über die Schärfe seiner Analyse hinwegtäuschen. «Es gab keinerlei Auseinandersetzung über die Konsequenzen einer solchen Operation. Es gab keine Auseinandersetzung darüber, was schiefgehen konnte. Ja, es gab nicht einmal ein klares Ziel für diesen Krieg!» Leffler sagt, Bush habe den Irakkrieg nicht wegen dessen Öl befohlen - und auch nicht, um dem Land Demokratie und Freiheit zu bringen.
Doch sollten die USA tatsächlich in Irak einmarschieren, so sah Bush sehr wohl ein freies und demokratisches Land als Ziel. «Das Problem war, dass Verteidigungsminister Rumsfeld oder die führenden Generäle daran nicht interessiert waren. Für sie bedeutet «regime change», also die gewaltsame Absetzung von Saddam Hussein, keineswegs das Fördern von Freiheit und Demokratie.»
Präsident Bush selbst fragte den Oberbefehlshaber der US-Truppen im Nahen Osten, General Tommy Franks, einmal: «Können wir gewinnen?» Franks antwortete: «Yes, Sir!». Bush hakte nach: «Können wir Saddam Hussein loswerden?» «Yes, Sir!», antwortete der General. Die Frage, die Bush daraufhin nicht stellte, war: «Und was dann?» Es wäre die entscheidende Frage gewesen.
Fehlende Fragen, fehlendes Hinterfragen
«Präsident Bush stellte durchaus gute Fragen. Gleichzeitig war er wenig neugierig, wirklich Neues zu erfragen.» Er stellte also nicht diejenigen Fragen, die das vorherrschende Denken aufgebrochen hätten. Leffler beschreibt eine weitere Anekdote, welche die Unzulänglichkeiten des amerikanischen Entscheidungsprozesses offenlegt: «Bushs Kontaktmann zum Auslandsgeheimdienst CIA sagte mir: Wir haben gegenüber dem Präsidenten generelle Aussagen gemacht. Dabei haben wir nicht wirklich quantifiziert, worüber wir Zweifel hatten.»
Die USA entschieden sich für den Angriff auf Irak im Nachgang zu den Terrorangriffen von 9/11, als in New York zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center geflogen und zwei weitere auf das Pentagon in Washington sowie ein Feld in Pennsylvania abgestürzt waren. 2977 Menschen starben, die USA wurden erschüttert von einer nie für möglich gehaltenen Verwundbarkeit.
Eine der wichtigsten Lektionen aus heutiger Sicht ist es, dass wir unsere Ängste modulieren müssen.
«Man muss sich die Angst im ganzen Land, bei den Politikern und in den Sicherheitsdiensten vor Augen führen, wenn man über den Irakkrieg spricht.» Doch diese Angst, wie sie Leffler beschreibt, wurde im Laufe der Zeit überhöht: «Eine der wichtigsten Lektionen aus heutiger Sicht ist es, dass wir unsere Ängste modulieren müssen. Wir müssen uns bewusst machen, dass politische Entscheidungsträger dazu neigen, Gefahren zu überhöhen, um eine Bedrohung aufzubauschen. Im Fall Irak wurde die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen in hohem Masse aufgebauscht.»
Die USA befürchteten nach 9/11 weitere Attacken. Gleichzeitig strotzte Amerika vor Stärke. Es war der unipolare Moment, die USA waren die einzige Supermacht der Erde – und hatten gerade innert kürzester Zeit in Afghanistan die Taliban besiegt.
Amerikas Macht und dem Machbaren Amerikas schienen keine Grenzen gesetzt. Zu dieser Gefühlslage gesellte sich das, was Leffler «Hybris» nennt, Anmassung: «Damit meine ich ein Gefühl von Überlegenheit, das uns Amerikanern innewohnt. Ein Gefühl, dass andere Völker amerikanische Werte willkommen heissen werden, sodass Präsident Bush selbst ernsthaft glaubte, dass die Iraker die US-Truppen enthusiastisch willkommen heissen würden.» Eine völlig falsche Einschätzung.
Lektionen für heute
Wie schnell US-Politik auch heute überschiessen kann, zeigte sich erst vor kurzem in der Auseinandersetzung mit China. Als kürzlich ein mutmasslicher chinesischer Spionageballon über Amerika schwebte, schossen die USA ihn kurzerhand ab. Und in der darauffolgenden Hysterie gleich noch drei weitere nicht identifizierbare Flugobjekte – die sich später als Forschungs- oder Spielzeug-Ballone entpuppten.
Genau deshalb sieht Melvyn Leffler durchaus Lektionen für heute: «Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, ob wir die Gefahren nicht überhöhen. Stellt China tatsächlich eine existenzielle Gefahr dar für zentrale US-Interessen? Oder bis zu welchem Grad wirken unsere Taktik von Abschreckung und Einhegung gegenüber China nicht weiterhin?»
In einer Politik von Eindämmung und Abschreckung wird es immer Zweifel geben.