In Russland bereitet man sich in diesen Tagen mit einer Militärparade auf «Tag des Sieges» am 9. Mai vor. An diesem Tag im Jahr 1945 erreichte die Rote Armee die Kapitulation der Wehrmacht mit dem Einmarsch in Berlin und sogleich das Ende des Zweiten Weltkrieges.
Die gelbe Farbe am Denkmal in der ukrainischen Hauptstadt ist neu und die Namen der meisten Städte ebenso. Anstelle von den russischen Städten Moskau, Leningrad, Tula und Stalingrad sind ukrainische Städte wie Butscha, Irpin, Mariupol und Charkiw gerückt.
Der neue Gegner heisst Russland
Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine in der Gegenwart verblasst die Bedeutung der Heldenstädte aus dem Krieg von einst. «Wir haben heute einen neuen bösen Gegner, gegen welchen wir kämpfen müssen», sagt Wiktor.
Er ist ein junger Einwohner der ukrainischen Hauptstadt und ist sich sicher, «dass wir bald einen neuen Tag haben werden, an welchem wir den Sieg der Demokratie feiern können». Er wolle sich nicht von den russischen Raketenangriffen einschüchtern lassen.
Menschen berichten von Gräueltaten
Die Reaktion der Menschen auf die anhaltende Gefahr nach fast zweieinhalb Monaten Krieg ist sehr stark von ihren Erfahrungen abhängig. Natalia hat während Wochen den Keller ihres Hauses kaum verlassen. Während die russische Armee die Stadt Irpin zu Teilen eingenommen hatte.
«Was in Irpin geschah, ist einfach nur grauenhaft. Ich wünsche niemandem, so etwas erleben zu müssen – keinem Feind. Kinder wurden getötet und vergewaltigt. Wozu das alles?» Weil es für die Verkäuferin in Irpin keine Arbeit mehr gibt, fährt sie in den Westen des Landes zu Angehörigen.
Ein Leben zwischen Trümmerhaufen
Von der Allee in Kiew sind es nur 15 Kilometer Luftlinie bis nach Irpin. 290 Personen sind alleine in dieser Vorstadt von Kiew während der Teilbesatzung der russischen Armee getötet worden. Ewgenja hat es geschafft, aus der Stadt zu fliehen, bevor die ersten russischen Soldaten auftauchten. In ihr altes Leben zurückzukehren, ist für sie nicht möglich.
Ihr Arbeitsplatz liegt wortwörtlich in Schutt und Asche. «Hier, das sind die Überreste von meinem Stuhl», sagt sie, während sie auf ein Gerüst aus Metall zeigt. Der Dachstock des Hauses hat dem Beschuss durch die russische Armee nicht standgehalten. Zum Glück hat sich zu diesem Zeitpunkt niemand im Gebäude aufgehalten.
Irpin ist eine jener neun Städte, die in diesem Jahr vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zur Heldenstadt ernannt worden sind. Zu Recht, wie Ewgenja findet: «Die Infrastruktur unserer Stadt hat deswegen so gelitten, weil von hier aus die russische Armee nach Kiew vordringen wollte.»
Keine Euphorie unter Helden
Wie viele Soldatinnen und Soldaten im Krieg bisher gefallen sind, weiss hierzulande niemand. Von ukrainischer Seite werden keine Zahlen publiziert. Die meisten der 140 Soldatinnen und Soldaten, die seit Ausbruch des Krieges zu «Helden der Ukraine» ernannt wurden, erhielten die Auszeichnung posthum.
Der Oberst Kaschenko der ukrainischen Armee zeigt sich sehr bescheiden: «Ich selbst habe nichts Heldenhaftes getan während diesem Krieg. Dies alles haben meine Soldaten gemacht.» In seiner Bürovitrine im Nordosten der Ukraine fehlt die höchste Auszeichnung der Ukraine bisher.
Sie steht bei seiner Frau und seiner sieben Monate alten Tochter zu Hause. «Wegen der Auszeichnung in Euphorie zu verfallen, wäre nicht richtig. Vor allem, da der Krieg noch nicht zu Ende ist. Die Auszeichnung ist zwar grossartig. Aber vor uns steht noch sehr viel Arbeit.» Ob die schlimmste Phase des Krieges bereits überwunden ist oder erst noch bevorsteht, das weiss in der Ukraine niemand.