Zum Inhalt springen

Abschied von Jacques Chirac Sein letztes Bad in der Menge

Seit Donnerstag reiht sich in Frankreich Hommage an Hommage, der Eiffelturm löschte seine Lichter, der heutige Montag wurde zum nationalen Trauertag erklärt. Jacques Chirac ist tot und die Franzosen entdecken ihre späte, aber grosse Liebe zum «animal politique» der Nation.

Die Schlange bis zum Tor des Invalidendoms ist sicher einen Kilometer lang. Die, die sonst schon ungeduldig von einem Fuss auf den anderen hüpfen, wenn jemand an der Supermarktkasse zu lange im Portemonnaie kramt, stehen stoisch an. «Für Chirac kann ich schon ein paar Stunden warten», meint eine alte Dame. Es sind schliesslich 7000 Menschen, die nach vier, fünf, sechs Stunden geduldigen Anstehens Jacques Chirac persönlich die letzte Ehre erweisen. Viele mit Tränen in den Augen.

«Ich musste einfach herkommen. Er war einer von uns», sagt ein Mann und zeigt ein Foto von ihm und dem ehemaligen Präsidenten. Nahbar, menschlich, gänzlich uneitel sei Jacques Chirac gewesen. Ein Beschützer, wirft ein Mann ein, der es Chirac hoch anrechnet, Frankreich mit seinem «Non!» gegenüber George Bush vor dem Irak-Krieg bewahrt zu haben. Ein Visionär, sagt eine junge Frau, für Chiracs Feststellung an einem Umweltgipfel, dass «unser Haus brennt und wir wegsehen» - 17 Jahre vor Greta Thunberg.

Chirac, der Machthungrige

So populär Jacques Chirac nach seinem Tod ist, so angefeindet wurde er all die 40 Jahre, während denen er die Geschicke der fünften Republik mitbestimmte. Als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister, Pariser Bürgermeister, zweimal Premierminister und schliesslich, im dritten Anlauf, als Präsident, von 1995 bis 2007. Chirac machte als machthungriger Politiker nie Gefangene, verriet Freunde, wenn es der Karriere diente, vollzog spektakuläre Kehrtwenden, brach Wahlversprechen.

Auf der internationalen Bühne vertrat Jacques Chirac sein Land mit gaullistischem Selbstbewusstsein. Respekt verschafft er sich mit seinem Veto gegen den Einmarsch in den Irak. Und damit, dass er als erster französischer Präsident eine Mitschuld an der Deportation tausender Juden während der deutschen Besatzung eingestand.

Innenpolitisch aber zerriss der konservative Präsident in den 12 Jahren seiner Amtszeit keine grossen Stricke. Angetreten, den sozialen Riss, der sich durch Frankreich zog, zu kitten, war Chirac der soziale Frieden immer wichtiger als einschneidende Reformen. Mehrfach manövrierte er sich dazu ohne Not ins Abseits. Einmal, als er das Parlament auflöste, und darauf mit der Linken regieren musste, ein zweites Mal, als er die Franzosen über die EU-Verfassung abstimmen liess. Und eine Abfuhr kassierte.

Chirac und die Schweizer Nati

Box aufklappen Box zuklappen

Am 6. September 1995 kam es an einem EM-Qualifikationsspiel in Göteborg zu einem Eklat: Die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft entrollte während der Nationalhymne vor dem Spiel gegen Schweden ein Transparent mit der Aufschrift «Stop it, Chirac», mit dem sie gegen die französischen Atombombentests im Südpazifik demonstrierten. Die offizielle Schweiz sah dadurch ihre Neutralität gefährdet. Für die Protestaktion gab es von der UEFA nur einen Verweis, später erliess sie ein Verbot von politischen Kundgebungen auf dem Fussballplatz.

Chirac, der Volksnahe

Doch mit zeitlichem Abstand rückten Chiracs krachende Niederlagen, seine Affären, ob innerparteilich oder amourös, seine Verurteilung für die Veruntreuung öffentlicher Gelder in den Hintergrund. Das Bild des brachialen Politikers wurde überlagert durch das Bild des weltoffenen Humanisten. Die Franzosen liebten Chirac für seine Bescheidenheit, seine Empathie. Für sein ungekünsteltes Interesse an allem, ob an fremden Kulturen, japanischer Poesie oder seinem jeweiligen Gegenüber. Mit überschäumender Energie gesegnet und immer in Eile, konnte Jacques Chirac durchaus innehalten und zuhören. Er liebte den Kontakt mit den Franzosen, das Bad in der Menge; Händeschütteln war sein politisches Lebenselixier.

Sarg mit Bild von Chirac
Legende: Die Franzosen haben ihre späte, aber grosse Liebe zum «animal politique» der Nation entdeckt. Keystone

Chirac, der Betrauerte

Dass Jacques Chirac Frankeich nachhaltiger prägte, als es den Anschein hat, zeigt die immense Trauer im ganzen Land, nachdem der 86-Jährige am letzten Donnerstag friedlich eingeschlafen ist. Plötzlich ist Chirac neben Charles de Gaulle der beliebteste Präsident der fünften Republik. Abertausende Franzosen tragen sich mit nostalgischer Wehmut in die Kondolenzbücher ein, manchmal mit einem einfachen «Merci, Chichi», manchmal füllen sie ganze Seiten. Für viele ist es das Ende eine Epoche. Und Jacques Chirac kittet auf dem Totenbett den Riss, der sich durch Frankreich zieht. Wenigstens für einen Moment.

Meistgelesene Artikel