Tunesien steckt in einer tiefen Krise. Die tunesische Wirtschaft hat sich von den Folgen der Finanzkrise von 2007 noch immer nicht erholt. Während der Pandemie sind wichtige Wirtschaftszweige wie der Tourismus eingebrochen.
Der tunesische Dinar wird immer schwächer, das Leben für die Bevölkerung immer teurer. In vielen Gegenden des Landes werden Lebensmittel knapp: Mehl, Zucker, Weizen, Reis oder Öl.
Wirtschaftliche Reformen wären nötig – der Staat müsste die Korruption bekämpfen, die alle Bereiche von Staat und Wirtschaft aushöhlt. Aber die Politik ist blockiert, Politikerinnen und Politiker beschäftigen sich mit sich selbst und packen die Probleme nicht wirklich an.
Vor einem Jahr hat Staatspräsident Kais Saied den Notstand erklärt. Er hat die Regierung entlassen, das Parlament suspendiert und regiert seither per Dekret.
Verfassung soll Macht des Präsidenten stärken
Mit einer neuen Verfassung will Saied jetzt das Notstandsregime zum Normalfall machen. Alle Macht soll sich beim Präsidenten konzentrieren. Das Parlament wird geschwächt.
Aufsichtsbehörden werden künftig vom Präsidenten ernannt – und selbst die Mitglieder des Verfassungsgerichts. Damit wird die oberste Aufsichtsinstanz im Land abhängig vom Präsidenten.
Saied sagt, der revolutionäre Prozess sei durch Blockaden im Parlament und Korruption auf allen Ebenen behindert worden. Seine neue Verfassung wolle die Revolution wieder neu in Schwung bringen.
Tatsächlich aber stellt er die Weichen neu. Die neue Verfassung schafft eine Konzentration der Macht auf eine einzige Person, wie sie Tunesien bereits vor der Revolution kannte. Zu einer autoritären Herrschaft braucht es keinen grossen Schritt.
Saied gibt Ennahda Schuld an Missständen
Der Präsident gibt an, er wolle die islamistische Ennahda entmachten. Sie war als einzige Partei seit der Revolution ohne Unterbruch massgeblich an der Regierung beteiligt.
Saied gibt ihr darum massgeblich die Verantwortung für die Missstände in Tunesien. Sie habe die Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung durch ein Korruptionsnetz unterwandert.
Auch wenn Saied Ennahda aus dem politischen Spiel drängt: Gesellschaftspolitisch vertritt er ähnliche Ideen wie die Islamisten. Der Text, der in Tunesien am Montag zur Abstimmung kommt, erklärt die Ziele des Islam neu zur Richtschnur für den Staat.
Dies meint im Grunde das islamische Recht, die Scharia, was Ennahda schon immer wollte. Nach der Revolution scheiterten sie mit dieser Forderung in der verfassungsgebenden Versammlung am Widerstand der Liberalen.
Erst nach langen Verhandlungen einigten sich die Konfliktparteien auf Kompromisse: Die Verfassung von 2014 erklärte Glaubensfreiheit und gleiche Rechte für Frau und Mann. Dies liegt auf der Linie, die Tunesien seit der Unabhängigkeit verfolgt hatte. Der Islam ist zwar offiziell Staatsreligion. Doch faktisch gibt es eine klare Trennung von Religion und Staat.
Präsident Saied will dies nun ändern: Seine Verfassung bedeutet für Tunesien in Wirklichkeit eine Konterrevolution.