Die politische Krise in Tunesien verschärft sich: Letzten Sommer suspendierte Präsident Kais Saied das Parlament und setzte die Verfassung ausser Kraft. Seither regiert er allein. Am Mittwoch hat sich eine Mehrheit des suspendierten Parlaments zu einer Sitzung getroffen.
Der Präsident reagierte umgehend und löste das Parlament gleich definitiv auf. Die Sitzung sei ein versuchter Putschversuch gewesen, begründet Saied sein Vorgehen. Maghreb-Experte Beat Stauffer warnt davor, dass die politischen Spannungen eskalieren könnten.
SRF News: Hat der Präsident recht? War diese Sitzung des Parlaments ein Putschversuch?
Beat Stauffer: Meiner Ansicht nach war das kein Putschversuch. Ich sehe darin in erster Linie den verzweifelten Versuch der Mehrheit der Parlamentarier, Präsident Saied zum Dialog zu zwingen und sich selber wieder politisch ins Spiel zu bringen. Das einen Putsch oder «Angriff auf die nationale Sicherheit» zu nennen, ist massiv überzeichnet. Das disqualifiziert den Staatspräsidenten eigentlich.
Was hat das Parlament am Mittwoch bei seiner Sitzung genau beschlossen?
Es hat beschlossen, den Ausnahmezustand, der seit Juli 2021 gilt, aufzuheben. Sämtliche Dekrete, die Präsident Saied seither erlassen hat, sollen ebenfalls aufgehoben werden. Das Parlament, respektive diese knappe Mehrheit der Abgeordneten, befindet sich aber selber ausserhalb der Verfassungsmässigkeit. Denn um diesem Gesetz Rechtskraft zu geben, müsste es im offiziellen Organ der tunesischen Republik veröffentlicht werden. Und es müsste vom Präsidenten unterzeichnet werden. Das ist natürlich absolut unmöglich.
Wer sind Saieds Gegner?
Die wichtigste Gruppe ist die islamisch-konservative Partei Ennahda. Sie wird von Präsident Saied am stärksten bekämpft. Zu seinen Gegnern gehören aber auch viele kleinere Parteien. Dazu kommt ein sehr grosser Teil der Zivilgesellschaft und auch der überwiegende Teil der wirtschaftlichen und kulturellen Elite des Landes.
Es gibt die Angst vor einer Eskalation, einem Flächenbrand in Tunesien.
Der Bruch zwischen dem Parlament und dem Präsidenten ist offenbar definitiv. Wie zeigt sich diese Spaltung beim Volk?
Die tunesische Bevölkerung ist ratlos. Viele Menschen sind verzweifelt darüber, dass zur aktuellen Versorgungskrise mit Lebensmitteln und Brennstoffen eine politische Legitimitätskrise kommt. Sie sehen keinen Ausweg und warten nun einfach ab, was weiter geschieht – und das mit grossem Bangen und Verunsicherung.
Kommt es zu Spannungen unter den verschiedenen Lagern, droht gar ein Bürgerkrieg?
Es gibt die grosse Befürchtung, dass Saieds Anhänger nun aktiv und womöglich sogar gewalttätig gegenüber den Parlamentariern werden könnten. Dies auch gegenüber den Ennahda-Mitgliedern. Umgekehrt könnten dann militante Gruppen, die mit der Partei verbunden sind, gewalttätig reagieren. Es gibt also die Angst vor einer Eskalation, einem Flächenbrand.
Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation?
Die Situation ist total verfahren. Präsident Saied hat zwar offiziell noch immer eine Mehrheit der Tunesierinnen und Tunesier hinter sich. Aber seine Hartnäckigkeit, seine mangelnde Dialogbereitschaft, seine autistischen Züge, wie man leider sagen muss – all dies macht wenig Hoffnung, dass er jetzt das Gespräch mit der Bevölkerung und den tragenden Kräften der tunesischen Gesellschaft sucht, um aus dieser schwierigen Situation herauszufinden.
Das Gespräch führte Daniel Hofer.