«Wir sind ein junges Paar. Meine Frau ist 31 Jahre alt, ich bin 29. Wir arbeiten beide in der Informatikbranche, möchten nach Europa emigrieren und dort eine Familie gründen. Könnt Ihr uns Tipps geben?» Oder: «Ich habe eine Greencard gewonnen und möchte in die USA auswandern. In welcher Branche soll ich einen Job suchen?» Das sind zwei von tausenden Einträgen auf «Es ist Zeit, abzuhauen». Über 200'000 Mitglieder hat die Gruppe allein auf Facebook.
«Wir sind eine Selbsthilfegruppe. Vom Moment an, wo jemand an Emigration denkt und Fragen hat – bis zum Moment ein paar Jahre später, wo er die Staatsbürgerschaft seiner neuen Heimat bekommt: All das hat Platz bei uns. Man könnte sagen: Wir sind Freunde in Sachen Emigration», sagt Jan Poljanski.
Der 42-jährige Gründer von «Es ist Zeit, abzuhauen» lebt schon seit vielen Jahren nicht mehr in Russland. «Ich bin wohl Russlands wichtigster Experte fürs Abhauen», sagt er über sich selbst. 1998 ist er nach Frankreich ausgewandert. Vor rund zehn Jahren hatte er die Idee, ein Internetforum für Emigration zu gründen. Seither wächst die Gruppe unaufhörlich.
Jeder und jede Fünfte will auswandern
«Jeden Morgen stehe ich auf und sehe, dass es mehr neue Mitglieder gibt – von gestern auf heute zum Beispiel sind wieder 200 dazugekommen», so Poljanski. Russland hat eine lange Tradition von Emigranten – bis heute. Gut ein Fünftel der Russinnen und Russen will auswandern, wie eine Umfrage kürzlich ergab. Besonders die Jungen zieht es weg.
In Japan beträgt die Lebenserwartung 94 Jahre, in Russland nur 73 Jahre. Das sagt eigentlich alles darüber, ob Russland ein gutes Land ist zum Leben.
Jeder Zweite im Alter zwischen 18 und 24 möchte lieber im Ausland leben. Dabei geht es nicht um Flucht vor konkreter politischer Verfolgung. Portalbetreiber Poljanski sagt: «Die Leute denken an Emigration, weil sie für sich keine Zukunft sehen in Russland – und weil sie ein besseres Leben für ihre Kinder wollen.» Er illustriert diese Gedanken mit einem drastischen Beispiel: «Googeln Sie einmal ‹Lebenserwartung nach Ländern›. In Japan beträgt diese 94 Jahre, in Russland nur 73 Jahre. Das sagt eigentlich alles darüber, ob Russland ein gutes Land ist zum Leben.»
An der tiefen Lebenserwartung ist nicht nur der ungesunde Lebenswandel der russischen Bevölkerung schuld. Poljanski sieht eine direkte Verantwortung beim politischen System, das in letzter Zeit immer repressiver geworden ist. «Die Repressionen richten sich ja vor allem gegen Leute, die etwas ändern wollen.» Jemand schreibe zum Beispiel einen Artikel darüber, wie schlecht das russische Gesundheitssystem sei.
Kritische Bürger verlassen das Land
Am nächsten Tag – so etwas könne durchaus passieren, sagt Poljanski – sitze der Autor schon auf der Polizeiwache und werde verhört. Die Folge: «Sobald er kann, wandert dieser kritische Bürger aus. Das Gesundheitssystem aber bleibt so schlecht wie von ihm ursprünglich beschrieben.»
Die Emigration schadet Russland, ist Poljanski überzeugt, weil die aktivsten Bürgerinnen und Bürger gehen. Wege raus aus Russland gibt es viele: ein Studium, ein Job als hochqualifizierte Person, ein eigenes Business. Allen gemeinsam ist: Die, die gehen, hätten auch in der Heimat etwas bewegen können.
Er habe sich oft gefragt, ob er mit seinem Projekt die Emigration nicht noch fördere und damit das Land schwäche. «Aber ich denke, der einzelne Mensch ist nun mal das Allerwichtigste. Einem konkreten Menschen kann ich helfen auszuwandern und ein neues Leben anzufangen. Das ganze Land retten – das kann ich nicht.»