Noch kurz vor dem Afghanistan-Gipfel der G7-Staaten kamen aus Grossbritannien, Deutschland und Frankreich laute Forderung an die Adresse des amerikanischen Präsidenten Joe Biden. Die USA müssten über die Frist vom 31. August hinaus mit Truppen in Afghanistan bleiben, nur so sei die Evakuierung aller zu evakuierenden Menschen zu schaffen.
Doch bei Biden stiessen die Forderungen auf taube Ohren. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende – nach dieser Losung gestaltet Biden seine Afghanistan-Politik. Und entsprechend kleinlaut äusserten sich nach dem Gipfel seine Verbündeten.
Andere Grossmächte müssen «mitmachen»
Einmal mehr hat sich gezeigt, dass die europäischen Nato-Staaten militärisch auf Gedeih und Verderb auf die USA angewiesen sind: Sie wären gar nicht in der Lage, die Evakuierung ihrer Bürgerinnen und Bürger selbst durchzuführen.
Kleinlaut geben sich die G7-Regierungen jetzt aber auch bei der Frage, wie mit den neuen Machthabern in Afghanistan umzugehen sei. Als die Schlussoffensive der Taliban begonnen hatte, kam aus der EU zunächst eine klare Ansage: Man werde einen Sieg der Gotteskrieger nicht anerkennen und stattdessen Afghanistan international isolieren.
Verdrossenes Fazit
Doch schnell wurde klar: Die Isolationsstrategie ist zum Scheitern verurteilt. China, Pakistan und andere Grossmächte sind gerne bereit, mit den Taliban wirtschaftlich und auch sicherheitspolitisch zusammenzuarbeiten.
Wohl oder übel setzen sich nun auch die USA und ihre Verbündeten mit den Taliban an einen Tisch. So schickte etwa Präsident Biden den Chef des Auslandgeheimdienstes CIA, William Burns, für diskrete Konsultationen nach Kabul.
Und bereits wird aus europäischen Hauptstädten der Ruf laut, nach den G7 müssten jetzt bald die G20 die Zukunft Afghanistans beraten. Zu den G20 zählen neben den westlichen Grossmächten unter anderem China, Saudi-Arabien und die Türkei.
Vieles spricht dafür, dass der Westen keinen anderen Weg sieht, als die Taliban irgendwie international einzubinden – in der Hoffnung, so wenigstens ein klitzekleines bisschen Einfluss auf das neue Afghanistan ausüben zu können.
Biden und die Maxime «America First»
Kleiner als von den europäischen Regierungen erhofft ist auch ihr Einfluss auf den neuen starken Mann im Weissen Haus: Joe Biden hatte bei Amtsantritt versprochen, wichtige internationale Entscheide mit seinen Verbündeten abzusprechen. Doch just mit Blick auf Afghanistan ist das nicht passiert.
Wie schon sein Vorgänger Donald Trump scheint Biden nach der Maxime «America First» zu handeln: amerikanische Interessen zuerst. Dabei fürchten viele in Europa, dass sie sehr viel mehr von den Negativfolgen amerikanischer Politik betroffen sein werden als die Amerikanerinnen und Amerikaner.
Denn ob nun Hundertausende von Flüchtlingen Afghanistan verlassen oder ob von Afghanistan neue Terrorgefahr ausgeht, es gälte wohl «Europe first»: die Probleme zuerst in Europa, erst dann in den USA.