«Zunächst haben sie mir bloss mein Tuktuk weggenommen», erzählt Flüchtling Yehannes. Jugendmilizen der Amhara-Ethnie seien durch seine Heimatstadt Humera gezogen und hätten ihn bestohlen. Der 28-jährige Yehannes (Name geändert) gehört zur äthiopischen Volksgruppe der Tigray.
Amhara-Kämpfer nehmen Humera ein – Tigray flüchten nach Sudan
Die Stadt Humera im Nordwesten der Tigray-Region wurde im November 2020 von Amhara-Kämpfern eingenommen, im Rahmen des Feldzugs der äthiopischen Armee gegen die Tigray-Rebellen. Viele Bewohnerinnen und Bewohner flüchteten schon damals ins Nachbarland Sudan. Yehannes harrte aus.
Im Juli 2021 wurde es Yehannes zu viel: «Amhara-Kämpfer nahmen mich fest und folterten mich. Dann drohten sie mir, ich hätte 24 Stunden Zeit, um zu verschwinden.» In der Nacht wagte er die gefährliche Flucht über den Grenzfluss, in den Sudan. Dort lebt er nun in der Grenzstadt von Hamdayet. Zehntausende Menschen aus Tigray sind unterdessen in den Sudan geflüchtet.
Auch der 35-jährige Fissehatsiyon verliess Humera, als sich die Situation zuspitzte: «Zuerst verhafteten sie einige junge Tigray. Wir versteckten uns zu Hause. Doch dann gingen sie von Tür zu Tür, und alle Tigray, egal welchen Alters und Geschlechts, wurden abgeführt.»
Fissehatsion lebt in einem grossen Zelt neben dem Markt von Hamdayet, zusammen mit 30 jungen Männern und Frauen. Sein Arm ist einbandagiert. Er sei auf der Flucht angeschossen worden, erzählt er. Hier verbringt er seine Zeit, wie hunderte junger Tigray in Hamdayet, mit Dame spielen und Kaffee trinken. Er ist unzufrieden: «Es wäre doch viel besser, zu kämpfen, als hier untätig herumzusitzen!»
Viele vertriebene Tigray denken ähnlich, denn im Sudan können sie ihrem Volk kaum helfen. Äthiopiens Aussenministerium liess kürzlich verlauten, man habe junge Tigray-Kämpfer festgenommen, welche Flüchtlingsausweise aus dem Sudan auf sich trugen. Die UNO teilte mit, man könne dies nicht bestätigen – Flüchtlinge würden entwaffnet, bevor man sie registriere. Auch finde in den Lagern kein militärisches Training statt, wie manchmal behauptet würde.
Tigray-Kämpfer in Flüchtlingslagern?
Die Tigray im Sudan dementieren die Aussage von Äthiopiens Zentralregierung ebenfalls. Sie ist, wie vieles in diesem Krieg, nicht überprüfbar. Hinter vorgehaltener Hand allerdings warnt ein Spitzendiplomat im Sudan davor, dass Tigray-Kämpfer von der UNO gut verpflegt wieder in den Kampf ziehen könnten. Immerhin ist das derzeit nicht problemlos möglich, die Grenze zwischen Sudan und Äthiopien ist geschlossen. Doch das könnte sich ändern.
In einem Stadion in Sudans Hauptstadt Khartum feiern Ende August über tausend Tigray das traditionelle Ashenda-Fest. An der unpolitischen Feier für Frauen und Mädchen spricht auch der Chef des lokalen Arms der Tigray-Befreiungsfront TPLF.
Die TPLF ist die politische Partei der Tigray, welche die Unabhängigkeit ihrer Provinz fordert. Das hatte zum Krieg geführt. TPLF-Chef Solomon Gebremedhin ruft auf der Bühne mit Pathos zum Kampf gegen die äthiopische Zentralmacht auf. Man werde den Gegner bekämpfen, bis er beerdigt sei.
Die Tigray im Sudan sammeln Geld für ihr Volk in Äthiopien. Bisher wurden Flüchtlinge im Sudan unterstützt, künftig solle auch Menschen in Tigray geholfen werden, verkündet TPLF-Führer Gebremedhin auf der Bühne. Im SRF-Interview danach sagt er dann aber, die Unterstützung beschränke sich auf Tigray im Sudan.
Versorgungskorridor könnte Krieg beeinflussen
Es ist einer von vielen Widersprüchen. Der TPLF-Chef erklärt nämlich gleichzeitig, dass man einen Versorgungskorridor nach Tigray anstrebe: «Es ist ein strategisches Ziel der TPLF, den Durchgang in den Sudan zu öffnen.»
Ein Korridor vom Sudan in den Osten von Tigray könnte den Konflikt in Äthiopien entscheidend beeinflussen. Nachschublieferungen wären möglich: Geld, Lebensmittel und Treibstoff könnten nach Tigray fliessen. Doch dafür müsste die TPLF erst den Westen ihrer Provinz zurückerobern. Dann könnten Kämpfer und Waffen nach Tigray gelangen.
Waffen liefere man nicht, betont der Tigray-Führer. Aber: «Ich unterstütze die Rückkehr von Jungen nach Tigray, viele hier würden gehen, wenn sie könnten.» Die verfahrene Konfliktsituation Äthiopiens kann man Gebremedhins Ansicht nach nur über den Kampf lösen. «Frieden gibt es erst, wenn Äthiopiens Staatschef Abiy Ahmed und seine Partei weg sind.»
Der Konflikt ruiniert Äthiopien
Der Konflikt in Äthiopien dauert nun schon fast ein Jahr. Hört man die Propaganda von allen Parteien, dann wird klar: Dieser Konflikt kann noch Jahre dauern. Das würde Äthiopien wirtschaftlich ruinieren und seiner Bevölkerung noch mehr Leid zufügen.
Im Markt des Flüchtlingsdorfes Hamdayet fahren Tuktuks herum – sie gehören den einheimischen Sudanesen. Der Flüchtling Yehannes schaut einem Gefährt hinterher. Er möchte wieder nach Hause: «Aber nicht als Kämpfer, sondern in Frieden.»
Die Mutter von Yehannes lebt noch immer in der Heimatstadt Humera. Manchmal ruft sie ihren Sohn an. Dann sagt sie ihm jeweils, er solle bloss nicht in seine Heimat zurückkehren.