Die Zahl ist alarmierend: Fast 23 Millionen Menschen in Afghanistan werden ab November nicht genug zu essen haben – mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Das zeigt ein Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation und des Welternährungsprogramms der UNO. Nicht nur auf dem Land, auch in den Städten würden die Leute unter Hunger leiden. SRF-Korrespondent Thomas Gutersohn über das erdrückende Leid im Land – und was der Westen dagegen tun kann.
SRF News: Was wissen Sie über die Versorgungslage in Afghanistan?
Thomas Gutersohn: Diese ist im Moment extrem schlecht. Es gibt kaum Flüge, die Waren ins Land bringen können. Auch an den Landgrenzen kommt es oft zu langen Schlangen; Lastwagen stehen tagelang mit verderblicher Ware vor den Grenzen. In den Städten verarmen Menschen, weil die Banken kaum Geld herausgeben. Zudem leidet Afghanistan seit Mai unter Dürre. Es kam zu grossen Ernteausfällen.
Warum spitzt sich die Lage nun dramatisch zu?
Afghanistan war auch während der letzten 20 Jahre von ausländischer Hilfe abhängig. 75 Prozent der Wirtschaftsleistung wurden durchs Ausland gedeckt. Hauptsächlich waren das Gelder des Internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank. Damit wurden Entwicklungshilfe oder auch Löhne von Lehrern und Polizisten bezahlt. Seit der Machtübernahme der Taliban wurden diese Gelder blockiert, weil die neue Regierung international nicht anerkannt wird.
Es gibt schreckliche Berichte, dass Menschen Organe oder ihre Kinder verkaufen.
Das führt dazu, dass ein grosser Teil des Geldes, das vor der Machtübernahme der Taliban im Umlauf war, plötzlich nicht mehr da ist. Auf der anderen Seite stehlen sich die Taliban – genau wie frühere Regierungen – aus der Verantwortung. Sie sagen, dass ohne Internationale Hilfe die Menschen verhungern, unternehmen selbst aber wenig, um die Not zu lindern.
Die UNO ruft dringend zu Hilfe auf. Es gehe um Leben und Tod. Was braucht es, damit das Geld wieder fliesst?
Humanitäre Korridore, damit Geld für humanitäre Hilfe wieder einfacher fliessen kann. Zudem braucht es über kurz oder lang eine Anerkennung der neuen Regierung. Die Staaten knüpfen diese an die Einhaltung von Menschenrechten, insbesondere der Rechte der Frauen. Zudem soll die Regierung auch Mitglieder von Minderheiten umfassen. Gleichzeitig beharren die Taliban darauf, dass Gespräche über Menschenrechte möglich sind, wenn ihrer Regierung anerkannt wird. Dieser Knoten scheint im Moment nicht lösbar zu sein.
Leidtragende sind die Menschen im Land, auch viele kleine Kinder sind darunter. Wie gehen die Leute mit der Misere um?
Sie leben in bitterer Armut. Wer in den Städten Möbel hat, versucht diese Habseligkeiten zu verkaufen. Zudem gibt es schreckliche Berichte, dass Menschen Organe oder ihre Kinder verkaufen. Im Hickhack zwischen den westlichen Ländern und den Taliban sind die Menschen in Afghanistan die Leidtragenden.
Führt diese Situation auch dazu, dass noch mehr Menschen versuchen, das Land zu verlassen?
Dürren haben in Afghanistan immer schon zu Fluchtbewegungen geführt. Erst innerhalb des Landes in die Städte, dann ins Ausland – vor allem nach Pakistan und Iran. Die beiden Länder haben ihre Grenzen derzeit grösstenteils geschlossen. Pakistan hat über die letzten Jahre Grenzzäune aufgebaut. Iran hat eine Art Pufferzone eingerichtet, um Flüchtlinge aufzufangen. Die Flüchtlingssituation wird sich in den nächsten Monaten dramatisch verschlechtern, weil jetzt der Winter kommt. Die Wintermonate sind in Afghanistan extrem kalt und trocken – es wird viel Leid auf die Leute zukommen.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.