Seit Monaten kontrollieren russische Truppen das grösste Atomkraftwerk Europas. In den letzten Tagen hat sich die Situation in der Anlage von Saporischja dramatisch zugespitzt: Ein Notfall, je nach Darstellung verursacht durch Beschuss oder Brand, führte zu einer Teilabschaltung – und einem Stromausfall in der ganzen Region.
Mittlerweile ist das AKW wieder am Netz, die Unsicherheit aber bleibt. Internationale Beobachter haben nach wie vor keinen Zugang. SRF News konnte mit einem Mann sprechen, der die Anlage von innen kennt. Jahrelang hat Andrej Tuz im Werk gearbeitet, als Techniker und zuletzt als Mediensprecher. Seine Flucht aus der Ukraine hat ihn auf verschlungenen Wegen in die Schweiz geführt.
Tuz beschreibt, wie die Kämpfe nur zwei Kilometer vom AKW begannen. «Es war Nacht. Von meinem Balkon aus habe ich die Raketen und Granaten gesehen, die auf das Atomkraftwerk flogen.» Er zeigt, wo sich die ukrainischen Verteidiger des Werkes befanden. «Sie müssen etwas abbekommen haben. Ich habe dort Blutlachen gesehen.»
Als die russischen Truppen kamen, fragten wir sie: Warum schiesst ihr auf das Werk? Sie meinten: ‹Oh, wir haben das gar nicht gewusst.›
Seit Kriegsbeginn ist das Atomkraftwerk schwer umkämpft. Immer wieder schlagen Geschosse auf dem Werksgelände ein. Der russische Befehl ist klar: Saporischja muss eingenommen werden – ohne Rücksicht auf Verluste. «Als die russischen Truppen kamen, fragten wir sie: Warum schiesst ihr auf das Werk?», erinnert sich Tuz. «Sie meinten: ‹Oh, wir haben das gar nicht gewusst.› Die russischen Befehlsempfänger waren sich offensichtlich der Tragweite ihres Tuns gar nicht bewusst.»
Tuz spricht von einem «moralischen Druck der russischen Besatzer». Die Werksleitung werde ständig einberufen: «Es heisst immer: ‹Wechselt doch auf unsere Seite!›. Es gibt auch Drohungen. Die Besatzer mischen sich in den Betrieb ein. Die kommen mit ihren Waffen rein. Und unsere Arbeiter sollen dann noch alles überwachen und richtig kontrollieren?!»
Was passiert, wenn das Kühlsystem im AKW ausfällt, wenn die alten Dieselgeneratoren als Notstromaggregate die Atommeiler abkühlen müssen? Tuz spricht von einer drohenden Katastrophe. «Am Donnerstag hatte ich wirklich Angst, als ich gesehen habe, was im Werk los ist. So etwa hat es hier noch nie geben.»
Es gebe verschiedene Faktoren, die sich negativ auf die Stromgeneratoren auswirken. Die Reparaturen seien während der Besatzung nicht mehr so effizient wie früher. Zudem stammten die Generatoren ursprünglich aus Russland und seit längerem gebe es Probleme mit den Ersatzteilen. «Auch können immer wieder naheliegende russische Waffendepots explodieren», erklärt Tuz. «Oder Raketen und Geschosse können einschlagen. Alle drei Stromgeneratoren sind relativ nahe zusammen. So können wir sie alle auf einmal verlieren.»
Sie haben mich gezwungen, ein pro-russisches Video zu drehen. Ich hatte keine andere Möglichkeit.
Tuz hat sich von Anfang gegen die russische Besatzung gewehrt – auch öffentlich und bei Demonstrationen. Bis es zu gefährlich wurde. Der russische Geheimdienst habe ihn dann verhaftet, verhört und misshandelt. Man habe ihn gezwungen, ein pro-russisches Video zu drehen, das in Russland breit verbreitet wurde. «Ich hatte keine andere Möglichkeit. Hätte ich nicht mitgemacht, wäre ich nicht mehr hier, sondern verschwunden, wie viele andere. Und meine Mutter hätte ich auch nie mehr gesehen.»
Diese Aussagen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Ebenso, dass Tuz Angst hat, wegen seines Wissens rund um das Atomkraftwerk Saporischja weiterhin Zielscheibe der Geheimdienste zu sein.