Es ist ziemlich was los in der «Bad Bro Bar» in Moskau. Dicht gedrängt stehen junge Leute um die lange Theke. Eine Barfrau zapft ein Bier nach dem anderen – American Pale Ale, Imperial Stout, Blanche de Bruxelles.
Die «Bad Bro Bar» folgt ganz dem internationalen Craft-Bier-Trend. Hier wird nicht einfach Lager-Bier in sich hineingeschüttet, hier werden Bier-Spezialitäten serviert – hier sinnieren Kenner über Hopfengehalt und die Röstung von Malz.
Wladimir sitzt mit seiner Frau Katja vor zwei grossen Gläsern. Er erklärt, was die beiden sich genehmigen: «Meine Frau trinkt ein Sour Ale. Das ist ja ein saures Bier, und um diese Säure abzumildern, ist es mit ganz wenig Johannisbeer-Balsam versetzt. Ein einzigartiges Rezept. Und ich, ich habe mich für ein IPA-Bier entschieden, einen Klassiker.»
Wladimir ist nicht nur Bier-Liebhaber, er hat auch die Trinkgewohnheiten seiner Landsleute ziemlich genau beobachtet. «Vor zehn wurde in Moskau noch überall getrunken. Das hat sich jetzt geändert. Die kleinen Alkohol-Geschäfte an jeder Ecke wurden geschlossen. In der Nacht ist es überhaupt verboten, Alkohol zu verkaufen.»
«Russen trinken bis zum Umfallen»
Tatsächlich hat der Staat eine Reihe von Verboten ausgesprochen, um den Russen das Trinken auszutreiben. Verbote, die nötig seien, sagt Wladimirs Ehefrau Katja: «Ich finde, die Verbote braucht es in Russland. Die Europäer haben vielleicht einen massvollen Umgang mit Alkohol. Wir Russen sind da anders: Wenn wir trinken, dann trinken wir bis zum Umfallen.»
Da ist es also, das Bild des russischen Trinkers, der keine Grenzen kennt. Gefühlt stimmt das: Fast jeder Russland-Reisende kann Geschichten erzählen von Saufgelagen und Wodka-Orgien. Die Statistik bestätigt den Eindruck: Alkohol ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass russische Männer früh sterben. Die Lebenserwartung für Russen beträgt bloss 66 Jahre. Woher kommt diese Vorliebe der Russen für starke Getränke?
Bleierne Jahre des Stillstands
Eine Antwort kann Sergej Bojzow geben. Der Arzt war lange Berater des Gesundheitsministeriums – und dort für die Alkoholprävention zuständig. «So richtig stark gestiegen ist der Alkohol-Konsum ab den 1970er-Jahren, also noch unter den Kommunisten.» Es habe sich eine richtige Trink-Kultur entwickelt. «Bei jeder Gelegenheit – egal, ob privat oder beruflich – gab es Wodka in rauen Mengen», so Bojzow.
Bojzow glaubt, dass das damalige soziale Klima die Trinklust gesteigert hat. Arbeit gab es zwar unter den Kommunisten für alle – aber keine Perspektive. Im Kreml regierte Leonid Breschnew, es waren bleierne Jahre des Stillstands. Also wurde gesoffen.
Später wurde dann ein Fensterputzmittel auf Alkoholbasis populär. Es schmeckte gar nicht schlecht.
Verschärfte Situation in den 1990er-Jahren
Kommt dazu, dass der Staat den Alkoholkonsum noch förderte. Schon im Zweiten Weltkrieg bekamen Frontkämpfer der Roten Armee täglich einen Deziliter Wodka ausgeschenkt – zur Stärkung der Moral. Später finanzierte die Sowjetunion ihren Haushalt zu einem erheblichen Teil aus der Alkoholsteuer. Trinken war staatlich gewollt.
In den 1990er-Jahren verschärfte sich die Situation noch einmal: Die Sowjetunion war zerfallen, viele Menschen verloren ihre Arbeit. Perspektiven gab es erst recht keine mehr.
Geordnetes Leben statt Alkohol
Der Journalist und Alkohol-Experte Michail Smirnow erinnert sich an diese berauschten Jahre. Damals wurde alles hinter die Binde gekippt, was irgendwie betäubte: «Die Enteisungssysteme von vielen sowjetischen Flugzeugen funktionierten mit Alkohol. Natürlich wurde diese Flüssigkeit getrunken – ich habe es auch probiert. Später wurde dann ein Fensterputzmittel auf Alkoholbasis populär. Es schmeckte gar nicht schlecht.»
Solche exzessiven Zeiten seien aber vorbei, sagt Smirnow, der viele Jahre für ein Wein-Magazin arbeitete und jetzt ein Alkohol-Branchenportal betreibt.
Als Hauptgrund für die neue Nüchternheit nennt Smirnow die verbesserte wirtschaftliche Situation: Den meisten Russen geht es heute besser als vor 20 Jahren, es gibt mehr und stabilere Jobs, der Staat funktioniert einigermassen. Die Folge: Wer ein geordnetes Leben hat, hat weniger das Bedürfnis sich zuzudröhnen.
Es ging darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie gefährlich das Trinken ist.
Regierung verabschiedet Anti-Alkohol-Paket
Eine wichtige Rolle spielt auch, dass der Kreml dem Alkohol-Missbrauch den Kampf angesagt hat. Ziel ist es, die Volksgesundheit zu fördern und die Lebenserwartung vor allem der Männer zu steigern. Mediziner und Präventionsexperte Sergej Bojzow: «Die Regierung hat zahlreiche Massnahmen ergriffen. Einerseits gab es eine Informationsinitiative. Es ging darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie gefährlich das Trinken ist. Andererseits wurde die Alkoholsteuer erhöht, vor allem Wodka wurde teurer.»
Auch das nächtliche Verkaufsverbot und ein strengerer Jugendschutz gehören zu diesem Anti-Alkohol-Paket. Das Ganze sei ein Erfolg gewesen, sagt Bojzow. «2008 wurden in Russland rund 11 Liter reinen Alkohols pro Kopf und Jahr verkauft. Inzwischen sind es nur noch rund 8 Liter.»
Die Zahl ist beeindruckend – sie ist aber auch mit Vorsicht zu geniessen. Denn ein beträchtlicher Anteil des Alkohols wird am Staat vorbei produziert. Der tatsächliche Konsum dürfte also deutlich höher sein. Je nach Quelle gibt es deshalb unterschiedliche Angaben zum Konsum. So fallen beispielsweise die Zahlen des russischen Gesundheitsministerium höher als als diejenigen, die Bojzow nennt.
Was aber sicher stimmt: Die Russen trinken weniger als früher und sie trinken weniger Hochprozentiges.
In der «Bad Bro Bar» steht Barmanager Kirill Brusin zufrieden in einer Ecke. Klar: Sein Lokal liegt im Herzen von Moskau. Hier verkehrt eine wohlsituierte Mittelschicht, die sich edle Spezial-Bier leisten kann. Aber was Brusin über sein Publikum sagt, ist ein allgemeiner Trend in Russland. «Unsere Gäste wissen, wie man trinkt. Für viele ist die Qualität wichtiger geworden als die pure Menge.»