Als ich an der Universität Russisch lernte, brachte man mir bei, wie man «guten Morgen», «ich heisse David» und «Puschkin ist der grösste russische Schriftsteller aller Zeiten» sagt. Inzwischen kenne ich die russischen Begriffe für «Artilleriefeuer», «Raketeneinschlag» und «zerfetzte Leiche».
Der russische Angriff auf die Ukraine betrifft mich eigentlich nur marginal – wenn man es mit den Ukrainerinnen und Ukrainern vergleicht. Ich lebe in einem sicheren Land. Ich muss mir keine Sorgen machen um das Leben meiner Kinder. Aber doch: Ich verfolge jeden Tag das Schlachten, die Zerstörung. Seit 1000 Tagen.
Der 24. Februar 2022 hat das friedliche Leben von Millionen Menschen pulverisiert. «Wie geht es Dir, bist Du in Sicherheit?», fragte ich eine gute Bekannte in Kiew an jenem Morgen. Sie floh gerade auf ihre Datscha, das Sommerhäuschen ausserhalb der Stadt.
Inzwischen arbeiten wir zusammen. Essen auch manchmal in einem guten Kiewer Restaurant zu Abend. Wir fahren über die endlosen und endlos schlechten Strassen im Osten, dort, wo die Front ist. Wenn man dem Krieg näher kommt, spürt man ihn. Erst kommen einem viele Krankenwagen entgegen – mit verletzten Soldaten. Dann werden die Strassen noch schlechter, weil Panzer die Fahrbahn aufgerissen haben. Dann ist da und dort ein Haus zerbombt. Noch stehen alte Omas am Wegrand und halten einen Schwatz.
Irgendwann hört man den Krieg. Er ist ein wildes Ungeheuer, laut, bedrohlich. Omas stehen dann nicht mehr herum. Nur noch Soldaten, die sich unter Bäumen verstecken. Dort, wo der Krieg wütet, hat dieses Ungeheuer alle Häuser zertrampelt. In den Feldern klaffen Krater wie riesige Wunden.
Seit 1000 Tagen ist Krieg. Meine Kiewer Bekannte lebt weiter, arbeitet, zieht die Kinder gross. Ich bewundere sie – wie alle Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie machen einfach weiter. Sie kämpfen. Sie haben keine andere Wahl.
Für SRF habe ich unzählige Male versucht, diesen Krieg zu erklären, zu erzählen, zu analysieren. Eigentlich muss ich sagen: Mir fehlen die Worte. Dieser Krieg ist das Grausamste und Sinnloseste, was ich je gesehen habe.
Was sicher stimmt: Dieser Krieg macht auch etwas mit denen, die ihn beschreiben. Über ein Dutzend Mal war ich im Kriegsgebiet. Dennoch verstehe ich nicht, wie das alles sein kann. Die Russen haben Dichter und Komponisten hervorgebracht. Jetzt zerstören Russen ganze Landstriche, sie sind daran, ein ganzes Land zu vernichten.
Kriegsreporter bin ich wider Willen geworden. Und doch werde ich weiter berichten. Der Krieg bringt das Schrecklichste in den Menschen hervor. Aber auch das Edelste. Einmal etwa traf ich einen ukrainischen Militärarzt, der im Akkord Verwundete versorgt. Und sagt: «Ich behandle russische Kriegsgefangene genauso wie unsere Jungs. Ich mache da keinen Unterschied.»
Seit 1000 Tagen ist Krieg. Jeder Kriegstag ist eine Ewigkeit. Ich wünsche mir, dass das aufhört. Ich wünsche mir, dass ich den russischen Begriff für «zerfetzte Leichen» wieder vergessen kann.