Die Ukraine ist in der Nacht auf Sonntag von den Russen mit 120 Raketen und 90 Drohnen angegriffen worden. Nur rund zwei Drittel von ihnen konnten von der Luftabwehr neutralisiert werden, es gab Tote und Verletzte. Ziel war aber vor allem die Energie-Infrastruktur im Land – und das unmittelbar vor dem Winter. Die Journalistin Daniela Prugger schildert die Lage in Kiew.
SRF News: Kraftwerke wurden beschädigt, es gibt weitflächige und teils lang andauernde Stromausfälle. Wie gehen die Menschen damit um – jetzt, da der Winter Einzug hält?
Daniela Prugger: Leider kennen sie das bereits. Es ist der dritte Kriegswinter, der jetzt bevorsteht. Inzwischen sind die Menschen in der Ukraine recht resilient – doch die Kriegssituation zermürbt sie immer stärker. Es gibt keine Pausen an schlechten Nachrichten oder der Kriegsgefahr.
Man muss sich auf einen harten Winter mit Stromabschaltungen und möglicherweise ungeheizten Wohnungen einstellen.
Zwar ist die Bevölkerung einigermassen auf die Stromknappheit vorbereitet: So haben etwa viele Geschäfte und Restaurants mobile Stromgeneratoren. Doch die jüngsten Angriffe der Russen haben wohl schwere Schäden an der Strominfrastruktur verursacht, deshalb muss man sich auf einen harten Winter mit Stromabschaltungen und möglicherweise ungeheizten Wohnungen einstellen.
Russland hat auch vor den vergangenen zwei Wintern jeweils die Energie-Infrastruktur gezielt angegriffen. Was ist jetzt anders?
Im Herbst 2022 etwa war die Stimmung eine ganz andere: Die Menschen hatten grosse Angst vor den drohenden Stromausfällen im bevorstehenden Winter, auch waren sie weniger gut darauf vorbereitet, etwa mit mobilen Generatoren, Batterien, Powerbanks oder Kerzen.
2022 hoffte man, die Russen ganz aus der Ukraine drängen zu können. Solche Stimmen hört man mittlerweile selten.
Damals war aber die Stimmung, was den Kriegsverlauf anging, viel besser: Kurz zuvor hatte die ukrainische Armee die Russen aus dem Nordosten vertrieben und im Süden die Stadt Cherson zurückerobert. Man hoffte, die Russen bald ganz aus dem Land drängen zu können. Solche Stimmen hört man mittlerweile sehr selten.
An diesen Orten schlugen unter anderem Raketen der Russen ein:
Erreicht Putin mit seiner Strategie der unablässigen Luftangriffe sein Ziel der Zermürbung?
Für das Funktionieren der Ukraine hängt wie in jedem Land sehr viel von einer funktionierenden Energie-Infrastruktur ab – sei es, ob der Lift in einem Hochhaus funktioniert oder ob es Licht und Heizung gibt für die Kinder in einem Schulhaus.
Die von den Russen verübten Verbrechen haben etwas mit der Bevölkerung in der Ukraine gemacht.
Doch bei der Befindlichkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer geht es auch um etwas anderes: Die von den Russen verübten Verbrechen in den besetzten Gebieten wie Mariupol oder im inzwischen zurückeroberten Butscha haben etwas mit der Bevölkerung gemacht. Zweieinhalb Jahre des Krieges, der schrecklichen Bilder, der ständigen Luftalarme oder der oftmals sehr persönlichen Verluste schlagen zunehmend auf die mentale Gesundheit der Menschen.
Nun soll die Ukraine laut Medienberichten auch Ziele in Russland mit weitreichenden Waffen angreifen können – gibt das den Menschen in der Ukraine etwas Zuversicht zurück, was den Kriegsverlauf betrifft?
Offenbar betrifft die Freigabe der US-Waffen bloss die Region Kursk. Doch es besteht die Hoffnung, dass die weitreichenden Waffen bald überall auf militärische Ziele im russischen Hinterland eingesetzt werden dürfen. Zudem hofft man jetzt, dass auch die Europäer dies mit ihren Waffen zulassen werden. Allerdings finden viele hier, diese Freigabe erfolge viel zu spät – denn jeden Tag sterben Ukrainer an der Front. Und jeder Tag des Wartens auf eine Entscheidung bei den Verbündeten ist in den Augen der Ukrainer einer zu viel.
Das Gespräch führte Dominik Rolli.