Es ist 1000 Tage her, seit Russland die Ukraine überfallen hat. Die Lage an der Front ist ernüchternd. Seit drei Monaten gelingt es den russischen Streitkräften, nach und nach neue Siedlungen in der Ostukraine zu erobern. Es sind kleine Geländegewinne, aber sie sind zahlreich und betreffen mehrere Frontabschnitte. Auch in der russischen Region Kursk, in der Kiew im August eine Offensive gestartet hatte, gerät die Ukraine unter Druck. Russland konnte mittlerweile Gebietsteile zurückerobern. Militärexperte Marcel Berni zur Lage an der Front.
SRF News: Warum gelingen Russland diese Geländegewinne?
Marcel Berni: Im Donbass spielt die russische Armee ihre Vorteile gnadenlos aus. Das sind Vorteile in Bezug auf die Luftkriegsführung, Gleitbomben, Raketen, aber auch Drohnen, die die Russen relativ sicher vom eigenen Gebiet aus abschiessen können. Dagegen war es der Ukraine lange verwehrt geblieben, mit westlichen Waffen auf russisches Gebiet zurückzuschiessen.
Würde der Einsatz von Langstreckenraketen einen Unterschied machen?
Es würde der Ukraine sicherlich helfen und auch einen moralischen Antrieb geben. Aber ich glaube nicht, dass es kriegsentscheidend wäre. Russland hat in den letzten Wochen viele Truppenkonzentrationen und Munitionslager von der Frontlinie ins Hinterland versetzt.
Was ist gerade das grösste Problem der ukrainischen Streitkräfte?
Das grösste Problem besteht im Personalengpass. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, so «verlusttolerant» wie die Russen zu kämpfen. Es ist der Ukraine nicht gelungen, das strukturelle Personalproblem zu lösen. Die Regierung will die 18- bis 25-Jährigen als strategische Reserve behalten und deswegen nicht an die Front schicken. Das ukrainische Offensivpotenzial schrumpft deshalb.
Wie steht es um die westliche Militärhilfe – gerade mit Donald Trump im Weissen Haus?
Die Wahl von Donald Trump ist für die Ukraine unglaublich unberechenbar. Wenn die amerikanische Unterstützung plötzlich wegfallen würde, müsste Europa kompensieren – oder andere Verbündete wie zum Beispiel Südkorea. Im Moment sehe ich aber kein Szenario, in dem dies ausreichen würde.
Die Russen haben den Köder nicht geschluckt.
War die ukrainische Offensive in Kursk ein strategischer Fehler?
Das abschliessende Urteil steht noch aus, aber das militärische Ziel dieser Operation wurde nicht erfüllt. Die Ukraine wollte russische Truppen aus dem Donbass lösen und nach Kursk manövrieren. Die Russen haben diesen Köder nicht geschluckt. Allerdings hält die Ukraine bis heute russisches Staatsgebiet als Faustpfand für mögliche Verhandlungen.
Warum hat die Ukraine Mühe, das Gebiet in Kursk zu halten?
Zum einen hat dies logistische Ursachen. Es gibt nur eine Strasse, die die Ukrainer für ihren Transport von Verpflegung und Munitionsnachschub nutzen. Andererseits ist auch der personelle Einsatz auf der ukrainischen Seite begrenzt. Kursk war eine ergänzende Operation und keine Hauptangriffslinie.
Droht der Ukraine ein neuer Angriff im Süden?
Es gibt Anzeichen, dass Russland Truppen in Saporischja zusammenzieht. Eine Möglichkeit ist, dass die Russen eine Ablenkungsoperation versuchen, damit die Ukraine eigene Truppen aus dem Donbass in Richtung Süden verlegt. Dann hätten sie ein leichteres Spiel im Donbass. Das zweite Szenario wäre eine tatsächliche Offensive im Süden, um die ukrainischen Truppen an einem weiteren Frontabschnitt unter Druck zu setzen.
Das Gespräch führte Jessica Kobler.