Sie gehören mittlerweile zum Tagesablauf der Britinnen und Briten wie die News und die Wetterprognosen: die täglichen Corona-Briefings der Regierung. Downing Street kommuniziert täglich, wie viele Menschen am Coronavirus erkrankt und gestorben sind. Es sind düstere Anlässe.
Die Frage ist nur, ob die offiziellen Zahlen stimmen, die der britischen Bevölkerung präsentiert werden. «Nein», sagt Camilla Brown von Care England, dem Verband der britischen Altersheime, gegenüber Channel 4. «Die Alters- und Pflegeheime hier sind gut organisiert und miteinander vernetzt. Deshalb haben wir rasch realisiert, dass diese Zahlen nicht stimmen können.»
Wir sind nicht im Krieg, sondern in einer zivilisierten Gesellschaft.
Diese zeigten nur, wie viele Menschen am Coronavirus in den Spitälern verstorben seien, so Brown. Die hohe Dunkelziffer in den Altersheimen liesse sich damit erklären, dass es in den Altersheimen bis heute keine Tests für das Coronavirus gibt. Niemand weiss, wie viele Menschen in den Alters- und Pflegeheimen am Coronavirus erkrankt sind und isoliert werden müssten.
Blinder Fleck in der Statistik
Care England schätzt, dass bis heute mindestens 7500 betagte Menschen in britischen Alters- und Pflegeheimen am Coronavirus verstorben sind.
Die hohe Ansteckungsrate kommt für die Pflegeexpertin dabei nicht überraschend: «Ich höre von unseren Kolleginnen täglich Geschichten von Altersheimen, die in Kosmetikstudios betteln müssen, damit sie ein paar Schutzmasken erhalten, oder die aus alten Vorhängen selber Schutzanzüge schneidern müssen.» Das sei gefährlich und unwürdig, findet Brown.
«Wir sind nicht im Krieg, sondern in einer zivilisierten Gesellschaft.» Aber die Beispiele zeigten, dass die Altersheime die versteckte Front dieser Pandemie seien und dringend mit dem notwendigen Material versorgt werden müssten.
Appell ans Parlament
Die desolate Situation in den Altersheimen machte letzte Woche auch Oppositionsführer Keir Starmer in seinem ersten Auftritt im Parlament zum Thema, als er einen Brief vorlas, den er offenbar von einer Altenpflegerin erhalten hatte. Darin stand: «Ich arbeite in einem Pflegeheim und habe Angst, denn ich weiss nicht, welche Patienten erkrankt sind, weil es keine Tests gibt. Wir tragen selbst gemachte Masken.» Das sei bedrohlich, sagte Starmer.
Was tut die Regierung, um das Personal in unseren Altersheimen mit dem nötigen Schutzmaterial auszurüsten?
«Und diese Bedrohung ist es, die wir immer wieder hören und uns allen zu denken geben muss», so der Chef der Labour-Partei. «Ich frage deshalb die Regierung, was sie tut, um das Personal in unseren Altersheimen mit dem nötigen Schutzmaterial auszurüsten.» Aussenminister Dominic Raab, der den an Covid-19 erkrankten Premier Boris Johnson in den vergangenen drei Wochen vertreten hat, verspricht seit Tagen, alles werde bald besser.
«Markt ist ausgetrocknet»
«Wir tun alles Erdenkliche, sodass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitssektor das nötige Schutzmaterial bekommen», so Raab. «Aber das ist im Moment nicht einfach, weil der Markt ausgetrocknet ist und alle Länder auf der Suche nach Schutzmaterial sind.» Seit gestern sitzt Johnson wieder an seinem Schreibtisch. In einem ersten Auftritt versprach er, dass Grossbritannien auf dem vorsichtigen Weg der Genesung sei.
Damit dies ohne Komplikationen verläuft, muss seine Regierung aber noch den blinden Fleck in den Altersheimen in den Griff bekommen. Sonst – so warnt die Zeitung «The Guardian» – könnte dieser blinde Fleck zu einem nationalen Schandfleck werden.