Wolfgang Müller ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und hat zur österreichischen Neutralität publiziert. Diese sei jung, und ganz aus freien Stücken habe sich das Land 1955 nicht dafür entschieden: «Es war der Preis dafür, dass die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg den Staatsvertrag mit den drei westlichen Siegermächten mitunterzeichnete.»
Nur mit dem Bekenntnis zur Neutralität gelang es Österreich also, die vier Besatzungsmächte abzuschütteln und wieder ein freier, souveräner Staat zu werden.
Offener für Verbindungen
Von Anfang interpretierte Österreich seine Neutralität anders als die Schweiz. Dazu gehört als erster Hauptunterschied die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, die laut Müller von Anbeginn klar war. Ebenso die Annäherung an andere internationale Organisationen und schliesslich die Assoziierung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.
Der Europäischen Union trat Österreich allerdings erst 1995 bei. Und wieder waren die Ereignisse in Moskau eine wichtige Grundlage für den Schritt: Denn 1995 war die Sowjetunion untergegangen, und Russland war mit sich selbst beschäftigt. Österreich begann, seine Neutralität grosszügiger zu interpretieren. Als EU-Mitglied trug Wien etwa sämtliche in Brüssel beschlossenen Sanktionen gegen Drittstaaten mit, während die Schweiz eigene Lösungen suchte.
Die «unbewaffnete» Neutralität
«Wir können sagen, dass die österreichische Neutralität von Anbeginn eine eher unbewaffnete gewesen ist», stellt Müller weiter fest. Österreich steckte stets bedeutend weniger Geld in die Verteidigung als die Schweiz. Das belegen Statistiken aus den 1980er-Jahren, als Bern dreimal mehr für die Armee ausgab.
Die Neutralität sei zwar auch in Österreich wichtig, und viele würden Wohlstand und Frieden direkt mit ihr verbinden, so Müller. So diskutierte das Land etwa intensiv, ob der ukrainische Präsident Selenski im Parlament per Video eine Rede halten dürfe. Die Gegner des Auftritts beriefen sich auf die Neutralität.
Nato wieder aktueller
Trotzdem scheint die österreichische Neutralität weniger tief verankert zu sein als jene der Schweiz. Denn wie in Schweden oder Finnland gibt es als Reaktion auf den Ukraine-Krieg nun auch in Österreich Stimmen, die den Nato-Beitritt fordern.
Traditionell werde diese Diskussion eher von Vertretern aus dem bürgerlichen Lager angestossen, sagt Müller. Die Freiheitliche Partei habe sich als Neutralitätsbewahrerin interpretiert, die SPÖ stehe traditionell dem westlichen Bündnis eher ablehnend gegenüber.
Zweidrittelmehrheit nicht in Sicht
Links und ganz rechts also sind gegen die Nato, während es in der konservativen Mitte Stimmen für die Allianz gibt. Zum Beispiel von Andreas Khol, dem ehemaligen Präsidenten des Parlaments. Auch Offiziere im Ruhestand befürworten die Abschaffung der Neutralität.
Bundeskanzler Karl Nehammer aber tritt entschieden auf die Bremse: Jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt, über solches zu sprechen. Einfach und schnell wäre ein Nato-Beitritt ohnehin nicht zu haben. Denn das Parlament müsste die permanente Neutralität mit einer Zweidrittelmehrheit aufgeben. Eine solche ist nicht in Sicht.
So dürfte Österreichs Neutralität vorderhand bleiben und dient nun sogar als mögliches Vorbild für eine Neutralität der Ukraine. Parallelen gäbe es: Wie Moskau 1955 die österreichische Neutralität verlangte, fordern die Russen nun solches von Kiew – ultimativ und mit Waffengewalt.