Israel und Gaza beschiessen sich gegenseitig mit Raketen. Jean-Marc Rickli ist Sicherheitsexperte am Zentrum für Sicherheitspolitik in Genf (GCSP). Im Interview erklärt er, wie sich Israel gegen die Raketen schützt und was ein Zweifrontenkrieg für den Raketenschild «Iron Dome» bedeuten würde.
SRF News: Wie funktioniert der «Iron Dome» genau?
Jean-Marc Rickli: Der «Iron Dome» verhindert das Einschlagen von Raketen in bewohntem Gebiet oder bei kritischer Infrastruktur. Dies tut der Raketenschild, indem er mittels Algorithmen die Flugbahn von Geschossen berechnet und dann entscheidet, ob er die Rakete mittels Gegengeschoss abfangen will oder nicht.
Warum fängt er nicht jedes Geschoss ab?
Weil es zu teuer wäre. Jedes Gegengeschoss des «Iron Dome» kostet ungefähr 50'000 US-Dollar. Deshalb fängt er keine Raketen ab, die in unbewohnte Gebiete einschlagen. Das wäre sonst zu teuer und hätte wenig Nutzen.
Wieso hat der «Iron Dome» beim Angriff der Hamas am Samstag nicht funktioniert?
Der «Iron Dome» hat funktioniert. Ohne ihn wäre das Ausmass der Zerstörung in Israel viel schlimmer. Die israelischen Streitkräfte gaben an, 85 bis 95 Prozent der Geschosse abgefangen zu haben.
Weshalb kamen trotzdem Raketen und Geschosse durch?
Die Hamas schoss am Samstag schlicht zu viele Raketen in Richtung Israel ab. Schätzungen gehen von bis zu 5000 Raketen innert 20 Minuten aus. Dies kann man als «Schwarmstrategie» bezeichnen: Der «Iron Dome» war schlicht überfordert mit der Anzahl an Geschossen, sodass einige trotzdem an sensiblen Orten einschlugen.
Warum haben die israelischen Streitkräfte diese Taktik nicht vorhersehen können?
Das ist zurzeit noch unklar. Es könnte verschiedene Gründe dafür geben. Faktoren sind sicherlich, dass in der Vergangenheit viele Streitkräfte vom Süden in den Norden Israels verlegt wurden und dass am Wochenende ein Feiertag in Israel stattfand. Ausserdem haben sich die israelischen Streitkräfte in der Vergangenheit wohl zu stark auf ihre technologische Überlegenheit verlassen.
Vielleicht war das israelische Militär etwas zu selbstgefällig.
Wie das?
Im Jahr 2021 setzte das israelische Militär in grossem Umfang künstliche Intelligenz ein, um Ziele der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihads zu identifizieren. Ein israelischer Geheimdienstoffizier sagte damals, zum ersten Mal sei die künstliche Intelligenz eine Schlüsselkomponente und ein Machtmultiplikator im Kampf gegen den Feind gewesen. Vielleicht war das israelische Militär etwas zu selbstgefällig.
Aktuell schiesst die Hamas immer noch Raketen aus dem Gazastreifen in Richtung Israel. Ausserdem beteiligt sich nun auch die Hisbollah an den Luftangriffen, sodass nun auch Raketen aus dem Libanon kommen. Wie lange hält der «Iron Dome» noch Stand?
Israel besitzt zehn sogenannte Batterien innerhalb des «Iron Dome». Jede dieser Batterien deckt eine Fläche von 150 Quadratkilometer ab. Dies ist aber bei weitem nicht genug, um das ganze Land zu schützen. Nur potenzielle Ziele von hoher Wichtigkeit wie Städte oder kritische Infrastrukturen können geschützt werden. Wenn also nun auch Angriffe von Libanon kommen, droht Israel eine zweite Front und dann würde es noch schwieriger, das Territorium gegen sämtliche Luftschläge zu verteidigen.
Das Gespräch führte Loric Lehmann.