Auf den Strassen von Isjum sind in diesen Tagen mehr ukrainische Soldaten, als ukrainische Zivilisten zu sehen. Fünfeinhalb Monate unter russischer Besatzung haben ihre Spuren hinterlassen. «Mein Mann und ich getrauen uns immer noch kaum aus dem Haus. Denn einmal als wir rausgingen, da sahen wir so viele Tote auf der Strasse, durch Schüsse und Minen getötet», erzählt uns eine Einwohnerin von Isjum.
Mein Mann und ich getrauen uns immer noch kaum aus dem Haus. Denn einmal als wir rausgingen, da sahen wir so viele Tote auf der Strasse.
Sie lebt in jenem Teil der Stadt, welcher am stärksten unter Beschuss geriet. Mit ihrem Mann betreibt sie eine kleine Autowerkstatt. Ihr Haus und ihre Werkstatt sind wie durch ein Wunder fast vollständig unversehrt geblieben.
45 Bewohner eines Hauses auf einen Schlag tot
Ein ehemaliger Mitarbeiter, der nur unweit vom Ehepaar entfernt wohnte, hat auf einen Schlag sieben Familienangehörige bei einem Luftangriff der russischen Armee verloren: «Meine Frau, Kinder und Enkel – alle sind tot. Stellen Sie sich vor: Es war Winter, es war kalt und es lag Schnee. Ich ging jeden Tag zum Haus und war dabei, bis jedes Familienmitglied aus dem Keller geborgen wurde.»
Die Familie hatte im Keller ihres Wohnhauses Schutz vor den russischen Bomben und Raketen gesucht. 45 Bewohner des Hauses kamen ums Leben, alle wurden am Stadtrand beigesetzt.
Erschossen am Checkpoint
Insgesamt 445 Gräber haben die ukrainischen Behörden in einem kleinen Waldstück, angrenzend zum bestehenden Friedhof, gefunden. Unter den Toten sind auch mehrere Kinder, deren Alter zum aktuellen Zeitpunkt nur geschätzt werden kann. Die meisten Gräber tragen keine Namen, sondern nur Nummern.
Die wenigsten hatten zum Zeitpunkt ihres Todes einen Pass auf sich. Für einzelne Einwohner in Isjum bedeutete das Fehlen eines Ausweises gar das Todesurteil, erzählt eine Pensionärin, die gleich unmittelbar am Waldrand vor dem Massengrab lebt: «Der Bruder meiner Bekannten Ljuba war mit dem Auto unterwegs. Als die Russen ihn an einem Checkpoint kontrollierten und er sich nicht ausweisen konnte, da haben sie ihn gleich erschossen.» Wer die Besatzung überlebt hat, der lebt zurzeit ohne fliessend Wasser, Strom, Gas und Internet.
Nicht allen gelingt es, mit den Verwandten Kontakt aufzunehmen. Die Behörden suchen nach 50 Kindern von Isjum, die von ihren Eltern ins Ferienlager geschickt wurden. Eine betroffene Mutter erzählt: «Es fuhr ein erster Bus und dann ein zweiter Bus von hier los. Die Kinder erzählten danach alle, wie toll es gewesen sei. Wie viele Möglichkeiten zur Erholung es gegeben hatte. Es war bereits die dritte Fahrt.» Die Kinder wurden ins südrussische Gelendschik gefahren.
Wir Erwachsenen kommen damit noch zu Recht, aber die Psyche der Kinder macht es kaputt.
Ohne die Möglichkeit, in Gebiete unter Kontrolle der ukrainischen Armee zu flüchten, hofften die Eltern den Kindern mit dem Ferienlager Erholung vom Krieg zu ermöglichen: «Die Zustände hier haben uns allen zugesetzt. Wir Erwachsenen kommen damit noch zu Recht, aber die Psyche der Kinder macht es kaputt. Unser Haus brannte aus», erzählt Olga Lesogornik.
Ihre 15-jährige Tochter Walentina hätte am vergangenen Wochenende zurückkehren sollen. Ein Wiedersehen ist jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben: «Sie ist schon ein grosses Mädchen und versteht, dass sie nicht zu uns zurückkehren kann. Sie weint am Telefon und sagt, sie wolle nach Hause.» Die Eltern hoffen nun auf Unterstützung des Internationalen Roten Kreuzes.