In den letzten Tagen konnte die ukrainische Armee mehrere Städte und Dörfer aus russischer Besetzung befreien. Was dies für die Menschen, die unter den Russen ausgeharrt haben, bedeutet, schildert die ARD-Journalistin Silke Diettrich.
SRF News: Wie überrascht waren die Menschen über die Nachricht, dass die Ukraine Gebiete zurückerobern konnte?
Silke Diettrich: Das kam für viele sehr überraschend. Die Erfolgsmeldungen kamen von einem Tag auf den anderen. Für viele Menschen war das ein Hoffnungsschimmer. Sie haben mir gesagt, «das hat uns jetzt wieder neues Leben eingehaucht, dass wir endlich auch Gebiete zurückgewinnen konnten».
Man sieht alte Frauen, die auf die Soldaten zustürmen und sie umarmen.
Journalistinnen und Journalisten dürfen derzeit noch nicht in alle befreiten Gebiete reisen. Was wissen Sie trotzdem?
In den letzten beiden Tagen sind wir in geführten Gruppen von der ukrainischen Regierung in einzelne Dörfer und Städte gelassen worden. Auf der einen Seite bietet sich ein Bild von sehr erleichterten Menschen. Man sieht alte Frauen, die auf die Soldaten zustürmen, sie umarmen, und mit Tränen in den Augen die ukrainische Flagge hissen.
Auf der anderen Seite erzählen sie heftige Geschichten von den letzten Wochen und Monaten: wie lange sie im Keller ausgeharrt haben, dass russische Soldaten bei ihnen geplündert hätte, wie viel Angst sie hatten, überhaupt auf die Strasse zu gehen. Es gibt auch Berichte von Menschen, die von Foltergefängnissen erzählen. Die Staatsanwaltschaften sind jetzt hier unterwegs, um Beweise zu sammeln.
Wie geht es diesen Menschen nach der Befreiung?
Sie sehen unglaublich erschöpft aus. Ich war in verschiedenen Orten, auch zum Beispiel im Süden, die sehr nah an den Grenzstädten sind. Die Menschen sind müde. Seit sechs Monaten hören sie ständig Explosionen und Raketeneinschläge. Die Kinder können schon unterscheiden, welche Rakete von wem kommt. Sie schlafen kaum durch, weil auch sehr oft in den Nächten gebombt wird.
Was wissen Sie über die möglichen Opfer von dieser Gegenoffensive der Ukraine?
Wir wissen wenig, zum Beispiel über zivile Opfer. Da werden noch viele zutage treten, weil die Häuser völlig zerstört sind. Es dauert lange, bis man das letzte Opfer aus diesen völlig zerstörten Gebäuden irgendwo rausholt. Viele liegen auch im Wald. Und was die Soldaten angeht, da erfahren wir von ukrainischer Seite eigentlich nie, wie viele ukrainische Soldaten bei diesen Angriffen und an der Front sterben.
Aber gibt es trotzdem eine Art Alltag?
Den gibt es. Er wirkt zwar immer ein bisschen skurril. Ich bin zurzeit in Kiew und ich war vorher in Odessa, einer wunderschönen Hafenstadt. Da sitzen die Leute draussen in Cafés, trinken Kaffee oder gehen in Restaurants.
Der Krieg ist ständig in den Köpfen.
Es gibt Supermärkte, die geöffnet haben. Doch irgendwie holt einen dieser Krieg wieder ein. Dann kommt der Luftalarm, alles wird geschlossen. Dann muss man entweder in den Bunker oder darf nicht mehr in die Läden rein. Der Krieg ist ständig in den Köpfen. Jeder kennt jemanden, der an der Front ist. Ich habe viele Menschen getroffen, die auch schon Freunde oder Familienangehörige an der Front verloren haben. Es geschieht schnell, dass man gerade noch gelacht hat und sobald man darüber spricht, sich wirklich die Augen mit Tränen füllen. Man merkt, dass das ein Trauma für die Menschen in der Ukraine ist.
Das Gespräch führte Claudia Weber.