Die Ukraine hat mit ihrer Gegenoffensive im Nordosten bei Charkiw viele überrascht. In den letzten Tagen gelang es ihren Truppen, von Russen besetzte Städte und Dörfer zurückzuerobern. Doch es bleibt schwierig, sich ein klares Bild der Lage zu machen. Wie das dennoch möglich ist, erklärt Auslandredaktor David Nauer.
SRF News: Die Lage in der Ukraine ist unübersichtlich. Wie kann man sich überhaupt ein unabhängiges Bild machen? Wie informieren Sie sich?
David Nauer: Das ist gar nicht so einfach. Ich habe eine Vielzahl von unterschiedlichen – auch unterschiedlich zuverlässigen – Quellen. Einerseits spreche ich auf beiden Seiten der Front mit Leuten, die ich persönlich kenne; andererseits lese ich viel klassische Medien.
Wenig bringen leider offizielle Quellen.
Ich bin aber auch sehr viel in sozialen Netzwerken unterwegs. Dort wimmelt es von Augenzeugenberichten, Einschätzungen, Videos, Fakenews. Ein kunterbuntes Informationspotpourri. Wenig bringen leider offizielle Quellen. Denn die Ukrainer sind oft sehr schmallippig, wenn es darum geht, das Kampfgeschehen zu kommentieren. Und die Russen nehmen es mit der Wahrheit sehr oft nicht sonderlich genau, gelinde gesagt.
Offizielle Quellen sind also wenig hilfreich für eine objektive Information. Welche anderen Quellen sind ergiebiger?
Eine wichtige Rolle spielt die App Telegram. Die Kommunikationsapp, ähnlich wie WhatsApp, hat die Funktion, dass jemand so etwas wie einen Infokanal betreiben kann. Das ist in der Ukraine und in Russland sehr beliebt. Da gibt es eine unüberschaubare Zahl von Infokanälen. Die sind oft sehr wild und parteiisch. Sie posten einfach jedes Video und Foto, das sie in die Finger kommen und kommentieren es entweder pro-russisch oder pro-ukrainisch. Mit Journalismus hat das wenig zu tun, man muss da sehr vorsichtig und sehr kritisch im Umgang mit diesen Kanälen sein. Aber es sind unmittelbare Informationsquellen.
Es bleibt aber vage, solange man nicht wirklich vor Ort ist?
Vage würde ich nicht sagen, man bekommt durchaus ein Bild von der Lage. Aber vor Ort sieht dann alles nochmal anders aus als man dachte. Dieser Krieg unterscheidet sich dadurch von früheren Kriegen, dass wir ihn fast in einem Liveticker miterleben: Menschen, auch Soldaten, filmen und fotografieren ständig mit ihren Smartphones. Man kann also das Gefühl bekommen, man sei live dabei im Krieg. Dabei bekommt man nur ein verzerrtes Bild vermittelt. Entsprechend ist Recherche vor Ort das beste Mittel, um zu verstehen, was passiert.
Läuft man als Journalist auch immer Gefahr, instrumentalisiert zu werden?
Ja, diese Gefahr besteht. Aber man muss generell sagen, dass die Ukrainer eine sehr professionelle Medienarbeit machen. Man kann als westlicher Journalist frei durchs Land reisen, mit wichtigen Funktionären der Regierung reden und berichten, was man will. Das schafft Sympathie – vor allem natürlich vor dem Hintergrund, dass die Lage in Russland anders ist. Dort riskieren Journalisten Gefängnis, wenn sie den Krieg oder die russische Armee kritisieren.
Nur weil jemand moralisch im Recht ist, heisst das nicht, dass alles stimmt, was er oder sie sagt.
Es gibt eine Dysbalance, wie die Kriegsparteien mit Journalisten umgehen. Dessen muss man sich bewusst sein. Man muss aufpassen, dass man sich nicht vereinnahmen lässt. Denn nur weil jemand sympathischer ist im Umgang, weil er moralisch im Recht ist in einem Krieg wie eben die Ukrainer, heisst das nicht, dass alles stimmt, was er oder sie sagt.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.