Tatjana* hat Angst. Die Russin, die zurzeit in der Schweiz ist, hat an Protesten in Russland und in der Schweiz teilgenommen und veröffentlicht ihre Meinung gegen die russische Regierung zudem auf Social Media. Da ihre Einträge öffentlich zu sehen sind, sei es möglich, dass die russische Regierung sie verhafte, wenn sie nach Russland zurückkehrt. Die Mitte 20-jährige Lehrerin hat eine Aufenthaltsbewilligung, die im August abläuft.
Ich kenne viele, die verhaftet worden sind, weil sie auf Twitter, Instagram und anderen Social Media Kanälen kritische Inhalte gepostet haben.
«Ich bin zwar keine wichtige politische Aktivistin wie Nawalny und sein Team. Aber ich kenne viele Freunde und andere politische Aktivisten, die verhaftet worden sind, weil sie auf Twitter, Instagram und anderen Social-Media-Kanälen kritische Inhalte gepostet haben.» Sie könne nicht sagen, dass sie sofort verhaftet werde, wenn sie russischen Boden betrete. «Aber ich habe das Gefühl, dass sie etwas gegen mich finden, wenn sie es brauchen.»
Auch Maria möchte in der Schweiz bleiben. Die Mitte 20-jährige russische Studentin hat sich bereits an Protesten in Russland und der Schweiz exponiert. Sie ist mit ihren zwei Halbgeschwistern in die Schweiz gekommen, die die Schweizer Staatsbürgerschaft haben. Marias Besuchervisum läuft in wenigen Tagen ab, auch sie muss zurück nach Russland.
Laut Schweizer Gesetz habe ich kein Recht hierzubleiben, solange mein Leben nicht bedroht ist.
Maria würde gerne in einem Land bleiben, welches Recht auf Meinungsäusserung und alle Vorteile einer Demokratie hat. Doch ihre Chancen auf eine Aufenthaltsbewilligung schätzt sie als gering ein. «Laut Schweizer Gesetz habe ich kein Recht hierzubleiben, solange mein Leben nicht bedroht ist», erklärt sie. «Deswegen gibt es für mich keinen Grund, es überhaupt zu versuchen.»
Russischer Geheimdienst setzt auf Abschreckung
«Ich kann verstehen, dass diese Russinnen besorgt sind», sagt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seit dem Ausbruch des Krieges gebe es in Russland neue Mediengesetze, die besagen, dass man den Krieg nicht als Krieg bezeichnen dürfe. «Es kann passieren, dass der russische Geheimdienst sich bei Menschen meldet, die sich kritisch über den Krieg und den Kreml in den sozialen Medien äussern.»
Man will, dass die Leute selbst vorsichtig sind und im Zweifelsfall etwas nicht in den sozialen Medien posten.
Zudem wolle der Geheimdienst die breite Öffentlichkeit im Ungewissen darüber lassen, ob er auch Aktivitäten von Russinnen und Russen im Ausland verfolgt. «Man will, dass die Leute selbst vorsichtig sind und im Zweifelsfall etwas nicht in den sozialen Medien posten», sagt Schmid.
Politik ist uneinig
Sollen russische Deserteure und Kriegsgegnerinnen Asyl in der Schweiz bekommen? Grünen-Nationalrat und Mitunterzeichner Balthasar Glättli spricht von grossen Hürden, die insbesondere die russischen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer vor sich hätten, falls sie in die Schweiz flüchten wollten. «Das Schwierige für die betroffenen Personen wird sein, aus der Armee herauszukommen und einen Weg zu finden, ins Ausland zu kommen.» Deshalb sei es aus seiner Sicht auch wichtig, dass es für sie die Möglichkeit von humanitären Visa gebe.
SVP-Nationalrat Thomas Aeschi ist klar dagegen. «Die Schweiz sollte alle Asylbewerber gleich behandeln, das heisst, auch wenn sich Russinnen und Russen um Asyl bewerben, haben sie genau die gleichen Rechte wie Asylbewerber aus anderen Staaten.» Zudem gebe es sehr viele Menschen, die in vielen anderen Ländern auch bedroht seien.
*Name von der Redaktion geändert