Viele Menschen in Russland haben Verwandte und Freunde in der Ukraine. Doch nun ist Putin dort einmarschiert. Er betont, es werde keine zivilen Opfer geben. Wie die Menschen in Russland diesen Feldzug einordnen, sagt Jens Siegert. Er lebt seit Jahren in Moskau.
SRF News: Was löst dieser Angriff auf die Ukraine in der russischen Bevölkerung aus?
Jens Siegert: Erst mal sieht es aus, als ob das Land in im Schock ist. Mein Eindruck ist, dass das niemand erwartet hat. Die allgemeine Wahrnehmung war, dass Druck aufgebaut wird. Aber dass tatsächlich Soldaten in die Ukraine einmarschieren und dass die Ukraine bombardiert wird, konnten und wollten sich die meisten Leute nicht vorstellen.
Die meisten Menschen in Russland haben Verbindungen in die Ukraine.
Hat sich das Bild, das die Leute von Putin haben, schon geändert?
Das ist zu früh. Die Menschen, die Putin unterstützen, suchen trotz des Schocks erst mal nach einer Erklärung. Die suchen sie auch in dem, was Putin gesagt hat. Das war allerdings und ist bis heute derart widersprüchlich, so wirr, dass es nicht wirklich überzeugend ist. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass es um die Ukraine geht. Die meisten Menschen in Russland haben Verbindungen in die Ukraine. Sie waren schon in der Ukraine und haben Verwandte und Freunde dort. Es mag zynisch klingen, aber gefühlsmässig ist es für die Menschen etwas anderes, als Syrien zu bombardieren, denn es betrifft viele unmittelbar.
Präsident Putin will seinen Angriffskrieg als Verteidigung darstellen. Er spricht ohne faktische Basis von einem drohenden Genozid und einer nötigen Entnazifizierung. Wie kommt diese Rhetorik in Russland an?
Putins Argument – wenn man es denn Argument nennen will – ist, dass das alles gar nicht gegen die Ukraine sei. Gegen die habe er überhaupt nichts. Das ist gegen die USA und gegen den Westen, die die Ukraine benutzen, um Russland zu vernichten. Deswegen würden sie alles tun, damit die ukrainischen Bürger nicht leiden.
Viele Leute wollen Putin glauben. Aber es klappt nicht. Jedenfalls ist das mein Eindruck.
Am Donnerstag hat das russische Verteidigungsministerium immer wieder gesagt, es würden nur militärische Objekte bombardiert, keine zivilen. Viele Leute wollen Putin glauben. Aber es klappt nicht. Jedenfalls ist das mein Eindruck.
Die beiden Länder, Russland und die Ukraine, sind sich sprachlich und kulturell sehr nahe. Löst das es keine Ablehnung aus, dass Putin sozusagen die eigenen Freunde angreift?
Deswegen kann ich mir vorstellen, dass die Kalkulation des russischen Militärs ist, dass der Angriff sehr schnell sein wird. Schon 2014 hat es ein Missverständnis in der russischen Führung und auch bei Putin gegeben, was die russischsprachigen Ukrainer anbelangt. Die Menschen im Kreml haben offenbar angenommen, dass das Russen seien. Das ist nicht der Fall. Ich glaube, das ist eine grosse Misskalkulation und kann dazu führen, dass die Probleme für Putin enorm werden, auch innerhalb Russlands.
Wenn es in der Ukraine sehr viele zivile Opfer gibt, kann ich mir vorstellen, dass die Stimmung kippt.
Die Russinnen und Russen leben in einer ganz anderen Welt. Durchschaut die Bevölkerung, wer hier der Angreifer ist, auch wenn das Putin anders darstellt?
Die meisten Menschen stimmen zu, dass der Westen Russland Böses will. Das ist das, was Putin bedient. Er sagt nicht, dass die Ukrainer böse seien, sondern dass dort ein vom Westen unterstütztes Regime an der Macht sei, und dass der Westen die Ukraine sozusagen zu einem Anti-Russland machen möchte. Das will er wieder ändern. Wenn er dieses Narrativ durchsetzen kann, kann er sich der Unterstützung vieler Menschen sicher sein. Aber wenn es in der Ukraine sehr viele zivile Opfer gibt, kann ich mir vorstellen, dass die Stimmung kippt.
Das Gespräch führte Claudia Weber.