Tausende Russen leben in der Schweiz, darunter auch einige Kremlkritiker. Der Autor Michail Schischkin ist einer von ihnen. Er schrieb kürzlich in der «NZZ»: «Zahlreiche Länder haben in den letzten Wochen sogenannte russische Diplomaten weggeschickt. Viele dieser Leute gingen nicht zurück nach Moskau, sondern in die Schweiz. Daher wimmelt es zurzeit in Genf und Bern von russischen Agenten.»
Dass russische Spione in der Schweiz tätig sind, ist bekannt. Wie der Nachrichtendienst des Bundes im Bericht «Sicherheit 2020» festgehalten hat, sind «gegen ein Drittel» des Personals der russischen Vertretungen in der Schweiz Agenten.
Ohne Wissen des Bundes
Derzeit sind in der Schweiz rund 220 russische Diplomaten akkreditiert. Ihre Zahl ist laut dem Aussendepartement seit Beginn des Ukrainekriegs nicht gestiegen. Trotzdem ist es möglich, dass ein Teil der 300 russischen Diplomaten, die im April aus EU-Ländern ausgewiesen worden sind, nun in der Schweiz sind – ohne Wissen des Bundes.
Russland ist nachrichtendienstlich in allen europäischen Ländern tätig – vor allem in denjenigen, in denen sich Oppositionelle aus Russland aufhalten.
Denn diese Personen verfügen über ein Schengen-Visum und können frei einreisen. Laut Peter Regli, dem ehemaligen Nachrichtendienstchef, ist das plausibel. «Russland ist nachrichtendienstlich in allen europäischen Ländern tätig – vor allem in denjenigen, in denen sich Oppositionelle aus Russland aufhalten», so Regli.
Kommt hinzu, dass die Schweiz Sitz zahlreicher internationalen Organisationen ist. Auch an ihnen dürften die Russen Interesse haben. Obwohl also die Schweiz ein interessantes Betätigungsfeld für Spione ist, die sich als Diplomaten tarnen, weist der Bund derzeit keine russischen Diplomaten aus.
Wir wissen, was der Preis für die Ausweisung ist. Nämlich, dass auch unsere Diplomaten ausgewiesen werden.
Bundespräsident Ignazio Cassis erklärt dies so: «Diplomatische Kanäle müssen offenbleiben. Wir wissen, was der Preis für die Ausweisung ist. Nämlich, dass auch unsere Diplomaten ausgewiesen werden.»
Russische Spione bleiben also da. Damit sind nicht alle in Bundesbern einverstanden. SVP-Nationalrat Mauro Tuena, Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission (SPK), kritisiert: «Das ist gerade in Kriegszeiten eine falsche Praxis. Es ist ganz wichtig, dass man unmissverständlich zu erkennen gibt: Wenn jemand nachrichtendienstliche Tätigkeiten ausführt und diese Person die innere Sicherheit gefährdet, muss sie das Land verlassen.»
Ausweisungen möglich
Bedroht ein Agent die innere Sicherheit stark, dann reagiert die Schweiz allerdings heute schon. In einem solchen Fall fordert das Aussendepartement die entsprechende Botschaft diskret auf, die Person abzuziehen – was dann meistens geschieht. Dies ist gängige diplomatische Praxis.
Doch wo genau liegt die Grenze, wie weit dürfen russische Agenten in der Schweiz gehen, bis es Konsequenzen hat? Diese Frage kann nicht klar beantwortet werden. Sie hängt von verschieden Faktoren ab, unter anderem auch vom herrschenden politischen Umfeld.
Laut Peter Regli kommt es nur zu wenigen Ausweisungen. Das Aussendepartement agiere hier vorsichtig. «Russland ist eine Supermacht. Es ist wohl eine Diktatur. Der Bundesrat muss sich genau überlegen, was er entscheidet, um nicht zu stark zu provozieren.»
Russische Diplomaten müssen wissen, dass sie sich nicht alles erlauben können.
Tuena möchte jedoch die heutige Praxis bei der Ausweisung von Diplomaten verschärfen und hat das Thema für die nächste Sitzung der Sicherheitspolitischen Kommission traktandiert. «Russische Diplomaten müssen wissen, dass sie sich nicht alles erlauben können», sagt Tuena. Die Sicherheit der Schweiz gehe vor, allfällige Retorsionsmassnahmen müsse man in Kauf nehmen.
Nicht zum Thema äussern wollte sich die russische Botschaft in Bern.