Über die schweizerische Neutralität wird seit dem Ukraine-Krieg wieder heftig diskutiert. Die SVP plant offenbar eine Volksabstimmung dazu, die Grünliberalen wollen die Neutralität aufgeben. Die ideale Schweizer Neutralität gebe es halt nicht, erklärt der Historiker Hans Ulrich Jost, der in den 1960er-Jahren als linker Intellektueller die Schweizer Neutralität in Frage stellte.
SRF News: Verhält sich die Schweiz im Ukraine-Krieg neutral?
Hans Ulrich Jost: Im Augenblick scheint es so, dass die Schweiz nicht an Massnahmen beteiligt ist, die den Krieg in der Ukraine unterstützen. Diesbezüglich kann man also sagen: Die Schweiz verhält sich neutral.
Was beinhaltet die Schweizer Neutralität für Sie als Historiker?
Das ist ein grosses Problem, weil diese schweizerische Neutralität sehr doppelbödig ist. Auf der einen Seite gibt es das hehre Prinzip, das durch historische Mythen noch verbessert wurde. Und so herrscht im Publikum vor allem ein ideales Bild vor.
Die ideale Schweizer Neutralität gibt es eben nicht, weil die Schweiz finanzpolitisch sowie wirtschaftlich stark im Ausland verbunden ist.
Auf der anderen Seite haben wir Auslandsbeziehungen vor allem von Wirtschaft und Finanz, welche die Schweiz oft dazu bringen, diese ideale Neutralität zu sabotieren oder zu ritzen.
Wie sollte eine ideale Schweizer Neutralität aussehen?
Die ideale Schweizer Neutralität gibt es eben nicht, weil die Schweiz finanzpolitisch sowie wirtschaftlich stark im Ausland verbunden ist. Bei den Auseinandersetzungen im 20. und auch schon im 19. Jahrhundert spielen eben nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche und finanzielle Faktoren eine entscheidende Rolle.
Die Neutralität gilt als einer der Pfeiler der Schweiz, wie die direkte Demokratie oder der Föderalismus. Ist die Schweiz damit bisher nicht gut gefahren, etwa mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg?
Da muss ich korrigieren. Die Neutralität zählt nicht zu den politischen ursprünglichen Werten, sondern wurde der Schweiz 1815 von den ausländischen Mächten aufgedrängt. Was den Zweiten Weltkrieg betrifft, so hat man sich damals einfach der Machtpolitik unterworfen.
Natürlich konnte man angesichts der Stärke der Achsenmächte Deutschland und Italien gar nicht viel Anderes machen, als sich auf die Forderungen nach Wirtschaftsbeziehungen inklusive Waffenlieferungen einzurichten. So wurde die Neutralität damals pathetisch aufrechterhalten, aber praktisch unterlaufen.
Sie sagen aber, dass es damals gar keine Alternative gab?
Das ist eben der Widerspruch dieses hehren Neutralitätsgedankens. Doch in der Praxis ist ein Land wie die Schweiz, das dermassen mit der Weltwirtschaft verflochten ist, immer wieder vor Situationen gestellt, in denen die Neutralität nicht durchgehalten werden kann.
Die Grünliberalen verlangen jetzt, dass die Schweiz der Ukraine Waffen liefert. Nur einer Partei Waffen zu liefern, wäre laut geltendem Neutralitätsrecht aber gegen die Gleichbehandlung der Kriegsparteien. Wie sehen Sie das?
Da ist wieder dieser unlösbare Widerspruch: Sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg waren ja die Waffenlieferungen auch nicht unbedingt ausgewogen. Die Schweiz war mal die Waffenlieferantin der einen, mal der anderen Seite. Das setzt sich fort etwa im Korea-Krieg, wo die Schweiz ihr Neutralitätsprinzip gewiss ebenfalls leicht unterlaufen hat.
Welche Lösung sehen Sie in der jetzigen Situation?
Ich sehe keine Lösung. Vermutlich muss man mit diesem doppelten Spiel weiterfahren – also einerseits auf ein Neutralitätsideal pochen und sich anderseits den faktischen Kräfteverhältnissen unterwerfen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.