Heute früh, vor genau sechs Monaten hat Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Innerhalb von wenigen Tagen, so der Plan des Kremls damals, sollte Kiew eingekesselt und eingenommen werden. Sechs Monate später ist Kiew noch immer ukrainisch und viele besetzte Gebiete wurden wieder befreit. Der Krieg findet nun vor allem im Süden und Osten des Landes statt. SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky berichtet vom Leben mit Krieg.
SRF News: Wie ist die Stimmung in der Hauptstadt nach sechs Monaten Krieg?
Luzia Tschirky: Ich habe heute Morgen ebenso Sirenen gehört wie vor sechs Monaten auf den Tag genau. Heute ist ukrainischer Unabhängigkeitstag und die Regierung hat davor gewarnt, dass es zu mehr Raketenangriffen von russischer Seite kommen könnte. Aber die Situation hat sich ganz klar verändert im Vergleich zum 24. Februar. Damals waren die Menschen vielerorts in Panik und viele haben fluchtartig die Stadt verlassen. In den vergangenen Kriegsmonaten hat sich doch ein bisschen mehr Selbstbewusstsein entwickelt angesichts des sehr guten Durchhaltewillen seitens der ukrainischen Armee.
Es war sehr auffallend, dass bereits in den frühen Sommermonaten die Stadt doch schon wieder sehr viel belebter wirkte als beispielsweise im März oder noch im April.
Es ist auch gelungen, den russischen Vormarsch vielerorts zu stoppen, die russische Armee beispielsweise aus dem Norden von Kiew vollständig zurückzudrängen. Und dementsprechend fühlen sich die Menschen hier doch ein bisschen selbstbewusster und auch ein bisschen sicherer.
Gibt es eine Art Alltag für die Menschen in Kiew?
Es war sehr auffallend, dass bereits in den frühen Sommermonaten die Stadt doch schon wieder sehr viel belebter wirkte als beispielsweise im März oder noch im April. Mir ist jetzt auch aufgefallen, dass viele Cafés und Restaurants, die vor einem Monat noch geschlossen waren, wieder geöffnet sind. Doch aufgrund des bereits sechs Monate dauernden Krieges sind viele Menschen in einer schwierigen Situation. Sie haben beispielsweise ihre Arbeitsstelle verloren oder haben keine Reserven mehr, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
Wie steht es um die Binnenmigration?
Es gibt sehr viele Binnenflüchtlinge, beispielsweise aus der Stadt Donezk, die von der russischen Armee in den vergangenen Kriegsmonaten eingenommen worden ist. Hier in Kiew gibt es spezielle Hilfecenter, wo diese Personen Hilfe bekommen.
Was die psychologische Hilfe betrifft, ist der Staat schlicht überfordert.
Doch diese Menschen bleiben teilweise in den Städten, die näher an der Front sind. Dort sind sie noch viel präsenter im Stadtbild. Natürlich ist für diese Menschen die Situation sehr schwierig, weil sie nicht damit rechnen können, dass sie in absehbarer Zeit in ihre Heimatstädte zurückkehren können.
Wie sieht es aus mit der Psyche der Menschen?
Der Krieg ist nicht spurlos an den Menschen vorbeigegangen. Ich war diese Woche in einzelnen Orten, die von der russischen Armee besetzt worden waren, in Norden von Kiew. Dort trifft man auf sehr viele Menschen, die darunter leiden, was sie beispielsweise in Butscha oder Irpin während rund eineinhalb Monaten russischer Besatzung erleben mussten. Das verschwindet nicht einfach durch die Befreiung, sondern die Menschen bleiben mit dem Erlebten zurück. Sie bekommen im besten Fall Hilfe. Man hilft ihnen, ihre Fenster wieder richtig einzubauen oder das Dach zu reparieren, falls es da Schäden im Verlaufe der russischen Besatzung gab. Aber was die psychologische Hilfe betrifft, ist der Staat schlicht überfordert. Es gibt einen riesigen Bedarf an Psychologinnen und Psychologen in der Ukraine, welcher zurzeit schlicht nicht gedeckt werden kann.
Das Gespräch führte Raphaël Günther.