Zum zweiten Mal innert Wochenfrist ist die von Russland annektierte Schwarzmeerinsel Krim von schweren Explosionen erschüttert worden. Der Schlag gegen ein Munitionslager und Infrastruktur behindere den russischen Nachschub, erklärt Militärexperte Gustav Gressel.
SRF News: Was ist bisher gesichert über die Schäden des jüngsten Anschlags?
Gustav Gressel: Offenbar wurden eine erhebliche Menge Artilleriemunition und einige Artilleriesysteme zerstört. Amateurfilmaufnahmen aus einem Passagierzug auf der nahen Bahnlinie lassen darauf schliessen, was sich im Lager befunden hat. Beschädigt ist auch die Bahnlinie via Kertsch-Brücke aufs russische Festland, und damit der schnellste Weg zur Belieferung der russischen Südfront. Trotz einer zweiten Bahnlinie über den Süden entstehen Engpässe und Staus.
Was sind die Folgen für die russische Armee?
Aufgrund verschiedenster Schläge der ukrainischen Armee hat sich die Angriffsgeschwindigkeit der Russen verlangsamt. Es gibt weniger Artillerieschläge, und die Offensiven konzentrieren sich auf kleinere Räume. Das sind Anzeichen für logistische Probleme. Die Schläge auf der Krim sind mitverantwortlich, ebenso die Himars-Raketenwerfer gegen frontnahe Munitionslager und Verteilpunkte.
Der Kreml spricht von einem Sabotageakt. Wie wahrscheinlich ist das?
Das ist bei der Explosion im improvisierten, oberirdischen Munitionslager nicht auszuschliessen. Ukrainische Spezialkräfte und lokale Partisanen dürften dahinterstecken. Es war vermutlich auch mehr Munition gelagert als vorgesehen, denn eine Eisenbahnbrücke war bereits zuvor zerstört worden. Nun stehen viele Züge für die Front um Saporischja auf der Krim herum. Bei den Explosionen am streng gesicherten Luftwaffenstützpunkt Saki vor einer Woche halte ich Sabotage für unwahrscheinlich. Da war jemand mit bunkerbrechender Munition am Werk.
Russland hat am Mittwoch die Zerschlagung einer Islamistenzelle auf der Krim gemeldet.
Davon ist gar nichts zu halten. Es ist die übliche russische Propaganda. Es gab auch nach den Explosionen in Saki sofort Verhaftungen unter den Krimtataren. Das ist das übliche Prozedere des russischen Geheimdienstes FSB. Solche Meldungen sollte man beiseiteschieben.
Schon beim Anschlag in Saki wurde über eine neue ukrainische Wunderwaffe spekuliert. Was ist davon zu halten?
Den Begriff «Wunderwaffe» würde ich vermeiden, denn es gibt keine Wunderwaffen, die alleinig kriegsentscheidend sind. Die Ukraine hat seit den 2000er-Jahren eine Rakete, die in Saki möglicherweise eingesetzt wurde. Sie ist leistungsmässig der russischen Iskander ähnlich.
Kiew erhebt keinen Anspruch auf die Urheberschaft. Warum nicht?
Präsident Selenski war nicht glücklich, als die «New York Times» vermeintliche Details des Anschlags geleakt hat. Man will den Russen nicht auf die Nase binden, womit man zugeschlagen hat. Denn mit den Schlägen will man die Russen ablenken und deren Kräfte zersplittern – um sie zu weiträumigen Sicherungsmassnahmen zu zwingen, die dann an der Front fehlen.
Mit den Schlägen will man die Russen ablenken und deren Kräfte zersplittern.
Für die USA ist es zudem in Ordnung, wenn die Ukraine auf der Krim angreift, ist das doch völkerrechtlich ihr Territorium. Selbst bei Anschlägen in Russland schweigt Kiew und lässt das russische Narrativ von Unfällen unwidersprochen. So soll auch die westliche Diskussion nicht weiter befeuert werden, dass jeder Angriff in Russland sofort einen Dritten Weltkrieg auslösen werde.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.