Mit der Krim hat der offene Konflikt zwischen Russland und der Ukraine begonnen. Im Krieg zwischen den beiden Ländern standen aber bislang andere Regionen im Fokus. Insofern kam die Meldung von heftigen Explosionen auf der Krim eher überraschend: Bilder von dicken Rauchsäulen wurden am Dienstag über soziale Medien verbreitet. Beobachter gehen von einem ukrainischen Angriff auf russische Militärflugzeuge aus.
Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy stammt aus Sewastopol, der grössten Stadt auf der Krim. Seit der Annexion lebt er in Kiew. Seine Eltern aber wohnen nach wie vor auf der Krim. Für ihn ist klar: Eine Rückeroberung der Krim durch die Ukraine ist vorderhand unrealistisch. Vielmehr gehe es den ukrainischen Streitkräften darum, die russischen Nachschublinien für den Angriff auf die Südukraine zu stören.
SRF News: Macht es den Menschen auf der Krim Angst, wenn das Kriegsgeschehen nun direkt auf die Halbinsel kommt?
Denis Trubetskoy: Für viele Menschen war es ein Schock. Auch wenn die Krim ein wichtiger russischer Militärstützpunkt für den Angriff auf die Südukraine ist und man nicht komplett unvorbereitet darauf war, dass das passieren kann.
Gibt es Menschen auf der Krim, die sagen: Jetzt geht es auch bei uns los? Bisher war es ja recht ruhig.
Richtig ruhig war es auch nicht. Es gab etwa einen kleinen Drohnenangriff auf den Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Die Menschen beobachten die Bewegung von ukrainischen Streitkräften in die Südukraine. Es wird natürlich darüber diskutiert, dass sie in nächster Zeit verstärkt und gezielt Ziele auf der Krim angreifen könnten.
Viele Menschen sind aufgeregter als sonst. Ihnen war aber schon von Anfang an bewusst, dass direkt vor der eigenen Haustüre Krieg herrscht.
Warum ist die Krim wichtig für die russischen Angriffe auf die Südukraine?
Die Umzingelung von Mariupol im Donbass oder die schnelle Einnahme von Cherson wären ohne die Truppenverlegung von der Krim aus nicht möglich gewesen.
Die Rückeroberung der Krim halte ich militärisch für schwierig.
Ganz grundsätzlich spielt die Krim militärisch eine enorm grosse Rolle. Selbst als sie ukrainisch kontrolliert war, hatten die russischen Streitkräfte dort ungefähr 25'000 Soldaten stationiert. Es ist eine stark militärisch geprägte Region. Ohne die Krim wäre die relativ schnelle Besatzung eines Teiles der Südukraine nicht möglich gewesen.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat nach den Explosionen in Saky einmal mehr betont, die Ukraine wolle die Krim zurück. Er sagte: «Der Krieg begann mit der Krim und er wird dort enden.» Halten Sie es für möglich, dass die ukrainische Armee die Krim jetzt tatsächlich militärisch zurückerobern will?
Im Moment geht es ihr realistischerweise darum, den Nachschub für die russischen Soldaten im besetzten Teil der Südukraine zu kappen und russische Militärtechnik zu vernichten. Die Rückeroberung der Krim halte ich militärisch für schwierig.
Dazu kommt: Im Süden der Ukraine gibt es Berge. Ich bin mir nicht sicher, ob die ukrainische Armee darauf vorbereitet ist, im Gebirge zu kämpfen. Selenski sagt seit acht Jahren, dass die Krim zur Ukraine gehört – und etwas anderes kann er auch nicht sagen. Das bedeutet aber nicht, dass ernsthafte Rückeroberungspläne existieren.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.