«Wir sind hier, wir leben noch! Lebt ihr noch?», ruft einer von der Bühne. Die Menge in dem stickigen Kellerlokal grölt. Es riecht nach Schweiss und Alkohol. Auf der Bühne steht Serhij Zhadan, das enfant terrible der ukrainischen Kulturszene: international gefeierter Schriftsteller, Poet, Punk-Musiker.
Das Konzert von Zhadans Band ist in diesen Tagen einer der seltenen Momente, in denen Charkiw richtig ausgelassen wirkt. Es wird getanzt, gesungen und getrunken, als gäbe es keinen Krieg vor den Toren der Stadt.
Charkiw liegt in der Ostukraine, rund zwei Millionen Menschen leben hier – eigentlich. Mit seinen Universitäten, seinen Industriebetrieben, der bunten Kulturszene ist Charkiw nach Kiew so etwas wie das zweite Herz der Ukraine – eigentlich.
Doch der Krieg hat Charkiw fest im Griff. Die russischen Truppen stehen bloss 15 Kilometer vom Stadtrand entfernt. Jeden Tag schiessen sie Raketen auf Charkiw ab.
Ein Kulturklub in Schutt und Asche
Die Zerstörungen in der Stadt sind horrend, wie man zum Beispiel auf der Strasse der Freiheit sieht, mitten im Stadtzentrum.«In dem Haus dort drüben war ein bekannter Kulturklub. Da ist eine russische Rakete reingeflogen», sagt Ivanna Skyba. Die 38-jährige Charkiwerin zeigt auf eine Häuserzeile, in der ein riesiges Loch klafft. Wo mal Menschen gefeiert haben, ist jetzt nur noch Schutt: Ziegelsteine, zerfetztes Isolationsmaterial, Kabel.
Ganz in der Nähe ist die Charkiwer Regionalverwaltung, sie wurde auch zerstört. Getroffen wurden auch ein Bürogebäude und mehrere Wohnhäuser in der Nachbarschaft.
«Die Logik der russischen Attacken zu verstehen, ist schwierig», sagt Ivanna Skyba. Sie, die vor dem Krieg eine kleine PR-Firma hatte, bleibt trotz allem in der Stadt. Viele Charkiwer haben nicht so viel Mut. Mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner ist geflohen – und noch nicht zurückgekehrt. Entsprechend leer wirkt die Stadt. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, die Schaufenster mit Brettern verbarrikadiert.
Auch ein Geschäft für Farben ist zu, im Lokal drinnen herrscht trotzdem Betrieb. Denis und sein guter Freund Pavel besprechen ihren heutigen Auftrag. In den Regalen stehen Kartonkisten mit Zucker, Teigwaren, Sonnenblumenöl.
Die beiden jungen Männer sind Teil einer Freiwilligen-Organisation, die Bedürftigen in der Stadt hilft.«Wir liefern vor allem Lebensmittel, gezielt, auf Anfrage, an ältere Leute, Familien, Behinderte», sagt Denis. Er und Pavel fahren auch heute aus. Ihr Kleinwagen ist bereits bis oben gefüllt mit Kisten. Ziel ist Saltivka, ein nördlicher Vorort von Charkiw.
Unterwegs machen die beiden Halt an einer Strasse am äussersten Rand der Stadt. Hier habe es heftige Kämpfe gegeben, sagt Pavel. Es ist ein apokalyptisches Bild: ausgebrannte Wohnblocks, die Fenster nur noch schwarze Löcher; bei einem Haus ist die Fassade eingestürzt. Ein ganzes Viertel hat die russische Armee in Schutt und Asche gelegt.
Zwar ist es den Ukrainern gelungen, die Russen zurückzudrängen. Doch die Front ist immer noch nah, regelmässig gehen auch Geschosse in Saltivka nieder.
Ein Stückchen weiter sind die Häuser noch intakt. Menschen wohnen hier. Zum Beispiel Rentnerin Valentina, die in einem Kleid mit Blumenmuster in den Hof kommt, um von Denis und Pavel ein Paket mit Lebensmitteln entgegenzunehmen.
Freiwillige helfen den Ärmsten
Sie muss ihren Pass zeigen. Sorgfältig notiert Pavel die Daten, sogar ein Foto mit Valentina und der Lebensmittelkiste wird gemacht. Als Beweis, dass die Ware nicht irgendwo unterschlagen wurde. «Viele Nachbarn sind noch nicht zurückgekehrt, weil fast nichts funktioniert: Die Geschäfte sind geschlossen, es gibt keinen öffentlichen Verkehr und auch keine Arbeit. Ich lebe von meiner Rente, 3000 Hrivna. Das reicht nirgends hin», sagt Valentina. 3000 Hrivna – umgerechnet sind das nicht einmal 80 Franken.
Das Schicksal der Rentnerin im Blumenkleid zeigt, dass der Krieg nicht nur Tod und Zerstörung bringt, sondern auch: Armut. Der Staat kann dagegen nur wenig tun, er ist mit dem Krieg beschäftigt. In die Lücke springt die ukrainische Zivilgesellschaft, Freiwillige wie Pavel und Denis.
Zurück im Stadtzentrum: an der Puschkinstrasse steht ein glatzköpfiger Mann mit Maler-Utensilien. Es ist Gamlet, Charkiws berühmtester Strassenkünstler. Seine Fans nennen ihn «den ukrainischen Banksy», nach dem berühmten britischen Strassenkünstler. Gamlet arbeitet gerade an einem neuen Werk in seinem typischen Stil: schwarze Striche, einfach, schematisch.
Der «ukrainische Banksy» malt weiter
Ist Kunst, was Charkiw jetzt braucht? Gamlet antwortet: «Klar, niemand braucht meine Bilder, wenn er gerade sein Haus oder seine Liebsten verloren hat, nicht weiss, wo er wohnen soll.» «Aber», fügt der Künstler an, «jedes Mal, wenn ich auf der Strasse arbeite, kommen Leute zu mir und bedanken sich. Sagen, meine Kunst inspiriere sie.»
Gamlet ist ein Künstler im Krieg. Wenn wieder mal Luftalarm ist, arbeitet er mit Splitterschutzweste – wie ein Soldat. Und: Er hat sich bei einem Freiwilligenbataillon eingeschrieben, trägt Messer und Pistole bei sich. Neben eines seiner Bilder hat er an die Wand geschrieben: «Mit jedem Verlust werden wir stärker.»
In Charkiw erzählen sie, die Russen hätten gedacht, dass sie die Stadt in drei Stunden einnehmen könnten. Inzwischen herrscht seit über fünf Monaten Krieg. Charkiw wehrt sich, Charkiw kämpft.