Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert nun schon mehr als fünf Monate – täglich gibt es Berichte vom Kampfgeschehen an der Front und von Bombardierungen im ganzen Land. Wie aber geht es der ukrainischen Bevölkerung? Um dies zu erfahren, ist SRF-Korrespondent David Nauer in der Ukraine unterwegs. Derzeit befindet er sich in der zweitgrössten Stadt der Ukraine, in Charkiw.
SRF News: Wie sieht Charkiw aus, wie sichtbar ist der Krieg?
David Nauer: Der Krieg ist hier im Gegensatz zu Kiew sehr sichtbar. Im Stadtzentrum sind viele Gebäude zerstört oder beschädigt. Die meisten Geschäfte und Restaurants sind geschlossen, Schaufenster sind mit Brettern abgedeckt. Es sind auch deutlich weniger Leute unterwegs als normal.
Die Russen schiessen jeden Tag mit Raketen auf Charkiw.
Es gibt Schätzungen, wonach weniger als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner zurzeit in der Stadt sind. Und Charkiw wird ja auch weiter angegriffen: Am Stadtrand gibt es Artillerieduelle und die Russen schiessen jeden Tag mit Raketen auf die Stadt. Auch letzte Nacht hat es einen solchen Angriff gegeben.
Gibt es so etwas wie Alltag?
Ja, das gibt es. Einzelne Restaurants haben geöffnet, dort gehen die Leute auch hin zum Essen und Trinken. Auch die städtischen Angestellten sind aktiv und pflegen öffentliche Parks oder wischen Strassen. Es gibt auch abendliche Konzerte oder Lesungen. Es gibt also einen Alltag – wenn auch auf Sparflamme. Denn der Krieg verunmöglicht vieles.
Haben sich die Menschen in Charkiw vielleicht so etwas wie gewöhnt an den Krieg?
Ja, in gewisser Weise schon – so traurig es tönt: Die Ukrainerinnen und Ukrainer gewöhnen sich an den Krieg, an die Gewalt.
Er sagte, wir würden es dann schon bemerken, wenn die Einschläge gefährlich nahekämen.
Ich habe zum Beispiel ein Interview gemacht mit einem Mann draussen auf der Strasse und da waren immer wieder Detonationen von Artillerie zu hören. Meinen Gesprächspartner hat das überhaupt nicht beeindruckt. Er kommentierte ganz trocken die Explosionen: «Das war weit weg, das war näher, aber immer noch weit genug.» Er sagte aber auch, wir würden es dann schon bemerken, wenn die Einschläge gefährlich nahekämen.
Sie haben unter anderem ein Kinderspital besucht, wie ist die Lage dort?
Die russische Armee hat das Spital mehrfach beschossen, es ist zum Teil schwer beschädigt. Die Ärzte arbeiten trotzdem weiter und es gibt Kinder, die dort stationär untergebracht sind: Sie müssen aber im Keller übernachten, weil es weiterhin die Gefahr von Beschuss gibt.
Die Kinder im Spital müssen im Keller übernachten, weil es immer wieder Beschuss gibt.
Das Spital betreibt sogar eine Frühchenstation, wo winzig kleine Neugeborene versorgt werden. Es ist erschütternd zu sehen, was für einen Start ins Leben diese Kinder haben.
Gibt es trotz all dieser Unsicherheit in Charkiw Flüchtlinge, die schon wieder in ihre Heimatstadt zurückgekommen sind?
Ja, die gibt es. Ich habe mit einer Familie gesprochen, einer Mutter mit zwei Kindern. Sie kehrte aus Österreich nach Charkiw zurück. Die Frau sagte, sie wolle nach Hause, sie habe Heimweh, zudem sei ihr Mann in der Stadt geblieben. Offenbar schätzt sie das Risiko als nicht so gross ein. Aber viele sehen das natürlich anders und kommen nicht zurück, solange der Krieg so nahe ist.
Das Gespräch führte Daniel Hofer.