Gegen 200'000 russische Soldaten kämpfen im Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Wir sehen die schrecklichen Bilder dieses Angriffs, die Toten, die zerstörten Städte. Wir verfolgen auf Landkarten die Bewegungen der russischen Truppen. Aber wir wissen fast nichts darüber, was die russischen Soldaten über ihren Kampf denken.
SRF ist an das Tagebuch eines jungen Soldaten der russischen Armee aus der Separatistenrepublik Donezk gekommen. Sie liefern einen seltenen Einblick ins Innere der russischen Streitkräfte in der Ukraine.
24. Februar
Das Warten auf den Einsatzbefehl ist ermüdend. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Donezk beschossen wird.
Niemand weiss, was auf uns zukommt. Meine Gedanken wandern immer wieder nach Hause. Ich bin noch gar nicht weg. Aber ich vermisse es schon jetzt.
Und doch: Tief drin bin ich froh. Mein Bruder und mein Onkel sind schon einberufen worden. Ich kann sie nicht im Stich lassen.
3. März
Wir sind in einem Zug. Ich weiss nicht genau, wo. Das Schlimmste kommt noch. Und ich werde es erleben.
Städte, Felder, Flüsse, Seen ziehen vor dem Zugfenster vorbei. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich mit meiner Gotte Kiew besuchte. Schade, ist der Grund für diese Reise das Töten.
4. März
Wir haben den Befehl, nach Charkiw zu gehen.
In den Nachrichten heisst es, dass die meisten ukrainischen Truppen aufgeben. Dafür kommen massenhaft Söldner.
Für die wird es sein wie auf dem Schiessstand. Wir haben keinerlei Kampferfahrung.
Ich habe zwar schon hundert Mal mein Gewehr auseinandergebaut und wieder zusammengesetzt. Aber was soll das? Das reicht nicht für den Ernstfall.
13. März
Wir wurden erneut verlegt. Näher zu Charkiw. Kaum sind wir angekommen, wurden wir mit Grad-Raketen beschossen. Explosionen, Schüsse. Das hat mir zuerst Angst gemacht. Aber ich habe mich daran gewöhnt.
Alle hier wollen nach Hause.
Weil wir bei minus 15 Grad auf dem kalten Boden schlafen müssen, sind viele krank. Tagsüber heben wir in der Kälte Gräben aus. Zwei haben möglicherweise Tuberkulose.
Und die Kommandanten machen uns fertig: «Ihr seid nur Fleisch. Grabt eure eigenen Gräber.»
Zuerst wollte ich unbedingt nach Hause. Das war das einzige, woran ich dachte. Die Tage wurden so lang wie Jahre. Jetzt habe ich mich dem Schicksal ergeben und versuche einfach weiterzugehen.
14. März
Das Dorf Petrovskoje, 18 Kilometer von Charkiw. Wir haben ein Haus gefunden, sind eingebrochen. Leben hier wie Könige – verglichen mit anderen Orten.
Pasta und Kartoffeln haben wir gefunden. Endlich! Normales Essen! Ich war noch nie so glücklich über Pasta.
Krankheiten behandeln wir mit Tee, Honig und Wodka.
Ich habe Mitleid mit dem Hausbesitzer. Falls er zurückkommt, beneide ich ihn nicht.
Heftige Kämpfe in Charkiw. Das Haus zittert, wenn die Bomben einschlagen.
17. März
Wieder 4 Kilometer näher an Charkiw. Wieso braucht es uns? Meine Waffe klemmt. Wir sind nicht einmal anständig bewaffnet. Wir sind wie Fleisch. Niemand kümmert sich um uns.
18. März
Eine 12-Stunden-Schicht auf dem Wachposten. Ohne Essen, ohne Schlaf. Sechs Kilometer, ein Weg.
Unterwegs sah ich die Reste einer russischen Kolonne. Zerrissene Metallteile, eine halbe Leiche. Ein bisschen weiter vorne – die Beine. Das werde ich nicht vergessen.
Sie haben uns gesagt, die Positionen der Ukrainer seien nur fünf Kilometer entfernt, wir seien an der Frontlinie.
24. März
Die Grossoffensive auf Charkiw hat begonnen. Seit zwei Tagen arbeitet die Artillerie Tag und Nacht. Hunderte Helikopter waren am Himmel. Bald wird Charkiw uns gehören.
Das gibt uns Mut. Und die Hoffnung heimkehren zu können. Aber es erlöst uns nicht von der Sinnlosigkeit unseres Hierseins.
25. März
Im Dorf Olkhovka. Die zweite Kompanie ist zerstört, der Major verwundet. Die Ukrainer nehmen die Dörfer in der Umgebung ein. Wir sind die nächsten.
26. März
Wir haben mehr als 50 Verwundete und Tote. Permanente Gefechtsbereitschaft.
Wir sind Kanonenfutter. Der Kommandant sagt: «Du nimmst deine Sachen und gehst. Mit einem Lieferwagen holt ihr die Jungs vorne raus. Niemand interessiert sich für dich.»
Wir haben nicht einmal die Garantie, dass wir nicht von unseren eigenen Leuten beschossen werden. Es gibt keine Unterstützung. Vielen Dank dafür.
Die Stimmung im Zug ist panisch. Die Jungs sagen, dass sie hier nicht sterben wollen. Niemand kümmert sich um uns! Der Major liegt verwundet im Krankenhaus.
Es ist schade um die Verstorbenen. Wofür haben sie ihr Leben gegeben? Ich weiss nicht, wen ich für alles, was hier passiert, verantwortlich machen soll.
Unsere Lebensmittelvorräte sind zu Ende.
28. März
Ständige Kämpfe mit den Ukrainern.
Soldaten werfen ihre Waffe weg und weigern sich, an die Front zu gehen. Dafür drohen sie uns mit 10 Jahren Gefängnis.
Die Hälfte unseres Zuges hat aufgegeben. Das hat zu unserem Rückzug von der Frontlinie beigetragen.
Ich hasse alles am Krieg. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu gehen.
7. April
Zeit für eine Bestandsaufnahme. Erstaunlicherweise habe ich gar keine Angst. Um kaltblütig zu werden, musste ich meine Erinnerungen und meine Zukunftspläne aus meinen Gedanken vertreiben.
Mörser- und Artilleriebeschuss ist das Wiegenlied, zu dem wir einschlafen, und das Lied, zu dem wir aufstehen. Mehr Angst macht die Stille.
Ich bin auf alles vorbereitet. Ich staune über meinen eigenen Verstand, dass er alles hervorbringt, was zum Überleben nützlich ist.
Sorgen macht mir meine Familie. Sie haben schon lange nicht mehr von mir gehört. Je näher wir an Charkiw sind, desto weniger Kommunikationsmöglichkeiten gibt es. Habt Geduld, meine Lieben.
12. April
Von hier aus sind die Aussenbezirke von Charkiw zu sehen. Die Kämpfe verlaufen schleppend.
Als Aufklärer müssen wir uns als Zivilisten verkleiden und in leere Häuser ziehen. Endlich habe ich herausgefunden, weshalb ich hier bin. Es ist zum Teil mir zu verdanken, dass die Ukrainer uns nicht getroffen haben.
Abends versammeln wir uns im Hauptquartier. Im Radio läuft sowjetische Musik. Eine unbeschreiblich angenehme Atmosphäre.
17. April
Wir können keine taktischen Operationen durchführen, wir können keine Rundum-Verteidigung leisten. Wir haben null Ausbildung. Wir sind nutzlos im Kampf gegen ausgebildete Soldaten.
Mit zwanzig bekomme ich die Möglichkeit ungestraft zu töten und schere mich einen Dreck um ein Menschenleben. Ich bin ein winziges Sandkorn in diesem ganzen Wahnsinn, der auf der Welt stattfindet.
19. April
Seltsamerweise möchte ich manchmal genauso gerne nach Hause gehen, wie ich hierbleiben möchte. Ich spüre keine Gefahr. Warum beginnt mir das zu gefallen?
Der Stolz schwillt an, weil ich weiss, dass ich im Krieg bin.
Jeder Krieg muss einen Sinn haben. Aber wir jagen der Macht hinterher, schlachten uns gegenseitig und alles um uns herum ab. Wir ertränken uns in Strömen von Blut.
Hier bricht das Tagebuch des jungen Soldaten der russischen Armee ab. Ein paar Tage später hat eine ukrainische Armeeeinheit das Dorf Ruska Losova am Nordrand der ostukrainischen Grossstadt Charkiw zurückerobert. Die russischen Soldaten mussten sich zurückziehen. Zurück blieb dieses Tagebuch.