Russland hat die strategisch wichtige Stadt Lissitschansk in der Ostukraine erobert – und damit eines seiner Kriegsziele erreicht. Der Kreml hat nun das ganze Gebiet Luhansk unter Kontrolle. Der Krieg ist damit aber alles andere als vorbei. Der russische Verteidigungsminister erklärte am Montag, dass die militärische Spezialoperation weiter gehen wird. Moritz Gathmann, Chefreporter des deutschen Magazin Cicero, über die weiteren Ambitionen des Kremls.
SRF News: Expertinnen und Experten rechnen damit, dass die russischen Truppen nun im Gebiet Donezk vorrücken werden. Sehen Sie das auch so?
Moritz Gathmann: Daran gibt es keine Zweifel. Es ist das Mindestziel von Putin, diese beiden «Volksrepubliken» komplett zu erobern. Luhansk kontrollieren die Russen jetzt komplett. Das Gebiet Donezk wird noch etwa zur Hälfte von der Ukraine kontrolliert. Die Russen werden jetzt versuchen, weiter nach Westen in Städte wie Slowjansk, Bachmut und Kramatorsk vorzudringen. In diesem Grossraum leben etwa eine halbe Million Menschen.
Wie gut ist Russland für die Offensive in Donezk gerüstet?
In diesem Raum haben die Russen ihre Truppen in den letzten Monaten massiert und eine Feuerwalze aufgebaut. Sie sind dann mit grosser Feuerkraft aus verschiedenen Richtungen nach Lissitschansk vorgerückt. Dort hatten sie ein grosses Übergewicht gegenüber den Ukrainern, besonders was Artillerie betrifft. Die Ukrainer haben bis zuletzt versucht, die Russen dort aufzuhalten.
Am Ende bleibt Putins Ziel, Kiew in die Knie zu zwingen – den Krieg also so lange weiterzuführen, bis es den russischen Bedingungen zustimmt.
Als die Gefahr bestand eingekesselt zu werden, haben sie sich zur nächsten Verteidigungslinie zurückgezogen. Die Russen werden ihre Offensive nun fortsetzen, indem sie so lange bombardieren, bis sich die Ukrainer noch weiter zurückziehen müssen.
Jüngst konnte auch die Ukraine militärische Erfolge verzeichnen. Zum Beispiel auf der Schlangeninsel oder rund um die Stadt Cherson. Auch haben die ukrainischen Truppen gemäss eigenen Angaben ein russisches Waffenlager zerstört. Kann die Ukraine den Vormarsch Russlands im Osten abbremsen oder gar stoppen?
Die Meldungen über die zerstörten Munitionsdepots sind sehr interessant. Diese fanden in Gebieten statt, die sich 50 Kilometer hinter der Frontlinie befinden. Das zeigt, dass die westlichen Waffenlieferungen wirken. Es wurden Waffen wie die deutsche Panzerhaubitze 2000 oder der US-Mehrfachraketenwerfer Himars geliefert, die präzisionsgesteuerte Munition über lange Strecken verschiessen können.
Damit hat sich die Situation im Osten verändert. Wenn es den Ukrainern gelingt, grosse Munitionslager oder Orte anzugreifen, in denen Panzer und Artilleriegeschütze gelagert werden, dann kann Russland nicht mehr in der gleichen Intensität wie bislang weiter machen. Es wird nun interessant zu sehen sein, ob sich unter diesen neuen Vorzeichen etwas am russischen Vormarsch ändert. Anzunehmen ist es.
Das nächste Ziel von Russland bleibt also, die Region Donezk unter Kontrolle zu bringen. Und was könnte Putin danach vorhaben?
Die beiden «Volksrepubliken» von den ukrainischen «Faschisten» zu befreien, bleibt ja Russlands Minimalziel. Am Ende bleibt Putins Ziel, Kiew in die Knie zu zwingen – den Krieg also so lange weiterzuführen, bis es den russischen Bedingungen zustimmt. Diese sind eine Kapitulation und eine Demilitarisierung der Ukraine. Russland hat auch gezeigt, dass es weitere Gebiete erobern möchte. Besonders Charkiw und Odessa sind bedroht – Russland nimmt sich so viel, wie es bekommen kann.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.