Als die Fliegerbombe Anfang März auf den Innenhof ihres Mehrfamilienhauses abgeworfen wurde, waren Tatiana und ihr Mann nicht zu Hause. Ende Juni sind sie zum ersten Mal in ihre Wohnung am Stadtrand von Tschernihiw zurückgekehrt. «Ich hatte eine renovierte Wohnung. Ich habe mein ganzes Leben im Atomkraftwerk gearbeitet und alles in diese Wohnung investiert», erzählt uns Tatjana in ihrer Küche.
Die Schwiegertochter von Tatjana wurde beim Angriff verletzt und musste im Spital behandelt werden. Im Nachbarhaus schräg gegenüber kamen beim Angriff 53 Menschen ums Leben.
Zerstörte Spitalausrüstung
Die medizinische Versorgung in Tschernihiw stand während des Krieges zeitweise kurz vor dem Kollaps. Russische Artilleriegeschosse zerstörten den Computertomograf der Klinik. Die Finanzierung eines Ersatzgerätes ist bisher ungeklärt, erzählt der Leiter der Klinik, Wiktor Jangold: «Unser grösstes Problem zurzeit ist die Zerstörung der tragenden Wände.»
In einem kleinen Nebengebäude des Spitals wurden bis vor dem Krieg Röntgenaufnahmen gemacht. Einfachere Röntgenaufnahmen sind in der Zwischenzeit wieder möglich, doch an der Stelle, wo einst der Computertomograf stand, türmen sich die Trümmer. Die Ärzte hoffen auf Unterstützung aus dem Ausland. In der Ukraine fehlt dem Staat das Geld für den Wiederaufbau.
Verhängnisvolle Geografie
Der Gouverneur der Region Tschernihiw, Wyatscheslaw Tschaus, bestätigt die schwierige finanzielle Lage: «Alle finanziellen Mittel investiert der Staat zurzeit in den Krieg. Und deswegen suchen wir nach Partnern, die uns helfen.» Während des Krieges wurde der Region die eigene geografische Lage zum Verhängnis. Die Region grenzt im Norden an Russland und an Belarus.
Da Russland die Ukraine auch vom Gebiet von Belarus aus angreift, geriet die Region besonders heftig unter Beschuss. Dabei sei vor allem zivile Infrastruktur zu Schaden gekommen, sagt der Gouverneur: «90 Prozent der über 5000 zerstörten Gebäude und Infrastrukturobjekte sind Wohnhäuser.»
Freiwillige für den Wiederaufbau
Zu den Ortschaften, in welchen besonders viele Wohnhäuser beschädigt wurden, gehört Jahidne. Im Dorf knapp zehn Kilometer südlich von Tschernihiw steht kaum ein Haus, dessen Dach und Fenster während der russischen Besatzung nicht zerstört worden sind. Freiwillige helfen den Dorfbewohnern und zimmern neue Dachstöcke und setzen Fenster ein. Mehrere tausend Menschen aus dem ganzen Land haben sich für den Freiwilligendienst gemeldet und sind in den verschiedenen Regionen im Einsatz, die zwischenzeitlich von der russischen Armee besetzt waren und nun wieder unter Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte stehen.
Wenn nur schon jeder Zehnte im Land mithelfen würde, könnten wir die Ukraine viel schneller wieder aufbauen.
«Wenn nur schon jeder Zehnte im Land mithelfen würde, könnten wir die Ukraine viel schneller wieder aufbauen», ist der Freiwillige Waleri Subkow überzeugt. Er hat ursprünglich geplant, für eine Woche anzupacken, hat dann aber vor Ort festgestellt, dass seine Hilfe länger benötigt wird. Jetzt plant er, bis Ende Sommer zu bleiben. Während es an Motivation nicht zu fehlen scheint, sind Werkzeuge und Material knapp.
Aller kreativen Wege zum Trotz: Die Zerstörung durch die russische Armee in der Ukraine konnte bisher nicht gestoppt werden. Mit jedem weiteren Kriegstag wachsen die Ausgaben, welche für den Wiederaufbau nötig werden.